Auf der Suche nach dem anderen Kant

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Neue Biografien und Deutungen zum Jubiläumsjahr.

Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte." So spottete Heinrich Heine und förderte damit Klischees, die bis heute im Umlauf sind: der pedantische Philosoph, nach dem die Königsberger ihre Uhren richteten, der nie seine Heimatstadt verließ und Werke schrieb, die kein normaler Mensch verstehen kann.

Die wissenschaftliche Kantforschung kann mittlerweile erklären, warum es zu dieser Karikatur im 19. Jahrhundert kommen konnte: Die frühen Biografen konzentrierten sich alle auf den alten Kant, der, wissend, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, mit heroischem Arbeitseinsatz versuchte, sein philosophisches System zu vollenden. Das konnte nur mit rigoroser Disziplin funktionieren.

Gegen alte Kant-Klischees

Die hier besprochenen Biografien zeigen auch einen anderen, nämlich den jungen Kant, der als "eleganter Magister" bezeichnet wurde, in der Königsberger high society verkehrte, Wert auf Kleidung legte und bei den Damen sehr beliebt war - diese schätzten seinen 'anmuthsvollen Witz' und seine liebenswürdige Unterhaltung.

Die Biografie von Uwe Schultz erschien erstmals 1965 und wurde für das Jubiläumsjahr überarbeitet. Sie ist deswegen etwas veraltet und bleibt, verglichen mit den anderen Arbeiten, an der Oberfläche. Sie ist aber verständlich geschrieben und bietet einen sehr brauchbaren ersten Überblick.

Steffen Dietzsch stellt Kants Leben in den Kontext einer Kulturgeschichte Königsbergs. Er schildert das universitäre Leben, die intellektuellen Debatten, Kants Kontakte und Auseinandersetzungen mit Zeitgenossen, seine Tischgesellschaft oder die Rolle der Juden in der kosmopolitischen Stadt. Dieser Ansatz hat einen Nachteil: vor lauter Kontext kommt oft Kant selbst - der Philosoph und Mensch - zu kurz.

Manfred Kühn legt mit seiner umfassenden Biografie ein Standardwerk vor. Auf fast 600 Seiten werden Kant, seine Stadt und sein Zeitalter zum Leben erweckt. Kühn macht sich auf den Weg nach dem echten Kant jenseits von Hagiografie und Karikatur. Er setzt mehrere Schwerpunkte. Vor allem betont er den jüngeren Kant. Er interessiert sich für den intellektuellen Werdegang, berücksichtigt aber gleichzeitig drei Kontexte, nämlich den der europäischen Aufklärung, den preussischen bzw. deutschen Kontext und jenen Königsbergs. Die Biografie erfüllt nicht nur wissenschaftliche Standards, sie ist auch lesbar und spannend geschrieben.

Die beeindruckendste Arbeit stammt von Volker Gerhardt. Er will nicht eine weitere Biografie schreiben (wobei die bereits 2001 auf Englisch erschienene Kühns sowieso schwer zu überbieten wäre), sondern einen neuen Zugang zu Kant eröffnen. Ziel der Studie ist es, die Einheit von Denken und Denkendem zu untersuchen und den personalen Kern des philosophischen Wissens herauszuarbeiten. "Die Philosophie sucht nach dem Zusammenhang der Phänomene - einschließlich ihres Zusammenhangs mit uns selbst. Ihr geht es sogar vornehmlich um die Beziehung des Wissens zum Träger des Wissens." Gerhardts Kant ist ein existenzieller Denker, dem es um die Philosophie als "Weltweisheit" geht, um Wert- und Sinnfragen der Menschen. Mit anderen Worten: der Kant der "reinen Vernunft", dem es angeblich nur um die Frage der synthetischen Urteile a priori geht, ist eine Karikatur. Texte dieses anderen Kant stellt Gerhardt in dem Band "Man merkt leicht, daß auch kluge Leute bisweilen faseln" zusammen.

Das Andere der Vernunft

Aufgabe der Philosophie ist es, die Selbstkritik der Vernunft weiterzuführen, um deren Allmachtsphantasien vorzubeugen und dem "Anderen" der Vernunft, nämlich dem Gefühl und dem Glauben, Platz zu lassen. Nach Gerhardt analysierte Kant - auch wenn ihm dieser Begriff fehlte - die existenzielle Daseinserfahrung des moralisch Handelnden, der die Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft erhofft, "die wir aus eigener Macht weder denkend erschließen, noch handelnd erreichen können". Im Gegensatz zu Dietzsch und Kühn, die Kant als religiös indifferent oder ungläubig darstellen, nimmt Gerhardt den religionsphilosophischen Kant ernst. "Gott steht im Hintergrund aller ernst zu nehmenden philosophischen Fragen Immanuel Kants."

Der Einstieg in die Kant-Lektüre wird uns heute mit guten Kommentaren leicht gemacht. Und Kant spendet Trost mit dem Satz: "Es ist niemals zu spät, vernünftig und weise zu werden." G. Cavallar

BUCHTIPPS:

IMMANUEL KANT.

Eine Biographie. Von Steffen Dietzsch. Reclam Leipzig 2003

368 Seiten, geb., e 25,60.

IMMANUEL KANT.

Vernunft und Leben.

Von Volker Gerhardt.

Reclam Stuttgart 2002

381 Seiten, kart., e 8, 90.

KANT ZUM VERGNÜGEN

'Man merkt leicht, daß auch

kluge Leute bisweilen faseln'.

Hrsg. von Volker Gerhardt.

Reclam, Stuttgart 2003

160 Seiten, kart., e 4, 20.

KANT. EINE BIOGRAPHIE

Von Manfred Kühn.

C. H. Beck Verlag, München 2003

640 Seiten, geb., e 30, 80.

IMMANUEL KANT

Von Uwe Schultz

Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, überarbeitete u. erweiterte Neuauflage 2003

187 Seiten, e 8,80.

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