Auf der Suche nach einer Hauptfigur

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Mit seinen Sherlock-Holmes-Geschichten erlangte der Schriftsteller Arthur Conan Doyle – der eine Zeitlang auch in Feldkirch und Wien lebte, studierte und arbeitete – Weltruhm.

Sir Arthur Conan Doyle, der Vater von Sherlock Holmes, ein gebürtiger Schotte aus Edinburgh, war in seinem Leben zweimal in Österreich: Das erste Mal als 16-Jähriger. Da er noch zu jung für eine Berufsausbildung oder ein reguläres Studium war, schickte man ihn 1875 für ein Jahr auf eine Jesuitenschule nach Feldkirch, nämlich auf die „Stella Matutina“. Zweimal pro Woche gab es da dreistündige Spaziergänge in Dreierreihen. Ein Engländer musste des Spracherwerbs wegen immer zwei Deutsche begleiten und Konversation treiben. Sir Arthur, damals nur Arthur, scheint im heutigen Vorarlberger Dreiländereck zwischen Österreich, Liechtenstein und der Schweiz recht glücklich gewesen zu sein: Er ging Schlittschuh laufen, rodeln, wandern, spielte mit den anderen Zöglingen ein damals sehr beliebtes, wenngleich gefährliches Spiel namens Stelzen-Fußball, aber auch richtigen Fußball, der damals an der Feldkircher „Stella“ überhaupt zum ersten Mal in Österreich gespielt wurde. Später war Conan Doyle bei der Gründung des FC Portsmouth dabei, der leider praktisch die ganze Vereinsgeschichte hindurch zweitklassig blieb. Wäre Arthur in Vorarlberg geblieben, hätte er den VEU Feldkirch gegründet.

Schlittschuhlaufen und Melangetrinken

Weniger Freude bereiteten ihm die Mathematik, die Geometrie und vor allem die Kegelschnitte. „Die Parabel habe ich besiegt, aber die Ellipse ist ein schrecklicher Gesell.“ Arthur gibt eine Schulzeitung namens „The Feldkirchian Gazette“ heraus und veröffentlicht darin Gedichte mit Titeln wie „A Football Match“ oder „Feldkirchian Notes“. Ein mitgebrachtes Buch, das ihn „nicht nur beeindruckte, sondern elektrisierte“, war „Tales of Mystery and Imagination“ von Edgar Allan Poe.

Beim zweiten Österreich-Besuch, 16 Jahre später, traf Arthur Conan Doyle, jetzt schon ein junger Arzt und aufstrebender Schriftsteller in Southsea (Portsmouth), am 5. Januar 1891 in Wien ein. Seine Frau Luisa begleitete ihn. Die zweijährige Tochter Mary blieb zu Hause in England bei Mrs. Hawkins, Luisas Mutter. Bei der Ankunft bot sich dem Ehepaar Conan Doyle ein „bedrückender, unheilvoller Empfang“ mit dichtem Schneefall, Wind und beißender Kälte. Die Pension immerhin war warm und gemütlich, und so besserte sich Arthurs Laune schnell. Er hatte Ersparnisse vom Verkauf der Rechte seines letzten Romans „The White Company“, wollte in Wien Vorlesungen besuchen und ein Semester lang Augenheilkunde studieren. „Ich belegte ophtamologische Vorlesungen im Krankenhaus“, schrieb er, „aber in London hätte ich bestimmt wesentlich mehr gelernt, denn selbst mit ordentlichen Kenntnissen der deutschen Umgangssprache ist es sehr schwierig, einer rasch vorgetragenen Vorlesung voller Fachausdrücke zu folgen.“ Tatsächlich verstand Arthur Conan Doyle von den Wiener medizinischen Vorlesungen praktisch nichts, gab das geplante Studium gleich wieder auf und funktionierte den Wien-Aufenthalt in einen langen Urlaub um. Das junge Paar vertrieb sich die Zeit mit Schlittschuhlaufen und Melange trinken. Außerdem schrieb Arthur binnen drei Wochen einen beauftragten Kurzroman mit dem Titel „The Doings of Raffles Haw“, den sogar der Autor selbst für „keine bemerkenswerte Leistung“ hielt und der eines der unbekanntesten Werke Arthur Conan Doyles blieb. Beauftragte, bezahlte Kurzromane für Zeitschriften! Das waren noch Zeiten für Schriftsteller! Conan Doyle wollte ursprünglich ein halbes Jahr in Wien bleiben, aber weil das Leben nicht nur aus Luft, Liebe, Schlittschuhlaufen und Melange trinken besteht, packte er schon nach zwei Monaten die Koffer und kehrte über Venedig, Mailand und Paris nach England zurück.

Ein literarischer Archetypus

Wieder zu Hause beschloss Arthur, „die Medizin den Hunden zum Fraß vorzuwerfen“ und sich ausschließlich der Schriftstellerei zu widmen. Seine Romane und die da und dort vereinzelt erschienenen Kurzgeschichten hatten ihm aber keinen wirklichen Karriereschub verschafft. Jetzt sah er seine Chance darin, eine Reihe von Erzählungen mit einer durchgängigen Hauptfigur zu verfassen. Gegenüber konventionellen Fortsetzungsromanen hatten die den Vorteil, dass ein Leser nicht das Interesse verlöre, wenn er die eine oder andere Ausgabe verpasste. „Auf der Suche nach einer Hauptfigur“, schrieb Conan Doyle später, „stellte ich fest, dass sich Sherlock Holmes, von dem schon zwei meiner kleineren Bücher gehandelt hatten, für eine Reihe von Kurzgeschichten sehr gut eignete.“ Sechsundfünfzig der sechzig Sherlock-Holmes-Abenteuer sollten kurze Geschichten werden. Conan Doyle schuf noch andere regelmäßig wiederkehrende Figuren, von denen aber keine den Autor überdauern sollte. Sherlock Holmes hingegen wurde ein literarischer Archetypus wie Faust, Hamlet, Odysseus, Robin Hood, Parzival, Romeo und Julia, Jekyll und Hyde, Dracula (mit Bram Stoker hatte Doyle Kontakt), Robinson Crusoe oder Don Quichotte.

Literatur, eine schwer zu öffnende Auster

Vorbild für Holmes war Joseph Bell, Professor der medizinischen Fakultät der Universität Edinburgh und ein Meister der Deduktion, den Arthur während seines Medizinstudiums bewundert hatte. Aber Archetypus hin oder her: Der erste Sherlock-Holmes-Roman („Eine Studie in Scharlachrot“) erlebte das Schicksal zahlloser Erstlingswerke junger, unbekannter Autoren überall auf der Welt: Er, Sherlock Holmes, trat die „übliche Rundreise“ an: Drei Verleger schickten ihn prompt zurück. Sie hielten Arthur für einen zweitklassigen Schriftsteller. „Literatur“, schrieb Conan Doyle seiner Mutter, „ist wahrlich eine schwer zu öffnende Auster.“ Noch war Sherlock Holmes weit davon entfernt, seinen Schöpfer weltberühmt und steinreich zu machen.

Arthur Conan Doyle hat nicht nur Österreich, sondern buchstäblich die ganze Welt gesehen: Als junger Mann wäre er bei der blutigen Robbenjagd im Eismeer der Arktis um ein Haar, genau gesagt: um eine Eisscholle, ertrunken. Später als Schiffsarzt kam er an die afrikanische Westküste (und brachte eine Magensache, etwas „Schleichendes“ mit nach Hause, an dem er ein Jahrzehnt lang laborieren sollte), noch später als bereits mittelalter, berühmter Mann war er als Freiwilliger beim Burenkrieg, der als Lazarettarzt in Bloemfontein operierte. Neujahr 1896 feierte Conan Doyle mit seiner Frau in Kairo. Er bestieg die Cheops-Pyramide, was er als „ziemlich unangenehme und sinnlose Anstrengung“ empfand. Literarische (und später spiritistische) Vortragsreisen führten Arthur in alle fünf Erdteile; mehrmals nach Amerika, aber auch nach Australien und Neuseeland.

„Holmes umgebracht“

Bei aller Unterschiedlichkeit verstand sich Arthur Conan Doyle gut mit Oscar Wilde, H. G. Wells, Robert Louis Stevenson oder Bram Stoker. George Bernard Shaw kritisierte Conan Doyle sein Leben lang hart. Schon nach der fünften Episode hatte Conan Doyle erstmals Lust, Sherlock Holmes umzubringen. Aufgrund seiner jugendlichen Vorarlbergerfahrung hätte Conan Doyle Sherlock Holmes in der Silvretta-Gruppe umkommen, in Schruns-Tschagguns erfrieren, in Galtür von einer Lawine verschüttet werden, in Lech oder Zürs am Arlberg zugeschneit werden, vom Pfänder zu Tode purzeln oder im Bodensee ertrinken lassen und damit schon auch der zukünftigen österreichischen Literaturtourismuswirtschaft einen Dienst erweisen können. Aber leider entschied sich Conan Doyle bei der Ermordung für die Schweiz.

In den düsteren Reichenbachfällen fand Arthur „ein würdiges Grab für den armen Sherlock, selbst wenn ich mein Bankkonto mit ihm beerdigte“. Nach erfolgter Tat notierte Conan Doyle lakonisch in seinem Tagebuch „Holmes umgebracht“ und wandte sich anderen Dingen zu. H. G. Wells notierte über Sherlock Holmes: „Nach einer grandiosen Karriere glücklich und anständig verstorben.“ In London war die Hölle los. Conan Doyle soll von einer erzürnten Leserin mit einer Handtasche attackiert worden sein. In der Redaktion des „Strand“, der Zeitschrift, die die Sherlock-Holmes-Geschichten immer vorabdruckte, bevor sie gesammelt in Buchform erschienen, kündigten nach dem „furchtbaren Vorfall“ zwanzigtausend Leser ihr Abonnement. George Bernard Shaw war sehr neidig, gab es aber nicht zu. In den Straßen Londons wurden Menschen mit Trauerbinden gesichtet. Mitglieder der königlichen Familie sollen erschüttert gewesen sein. Bloß zwei Jahre war Sherlock Holmes auf der Welt gewesen und Arthur Conan Doyle plötzlich unglaublich berühmt geworden, aber für etwas, das er selbst gering schätzte und das seinen schriftstellerischen Ambitionen in keiner Weise entsprach.

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