Auf in die WILDNIS

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Am Fuße des Dürrensteins blieb die Natur seit der Eiszeit sich selbst überlassen. Forschung zur Waldökologie findet hier einzigartige Bedingungen.

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Am Fuße des Dürrensteins blieb die Natur seit der Eiszeit sich selbst überlassen. Forschung zur Waldökologie findet hier einzigartige Bedingungen.

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Wer einen Geschmack der Wildnis erhaschen will, muss nicht unbedingt einen Langstreckenflug buchen. Rund zwei Autostunden von Wien aus sind schon genug, um an den Rand eines Urwalds zu gelangen: Im südwestlichen Niederösterreich befindet sich der 460 Hektar große Rothwald I, der letzte Urwaldrest in Mitteleuropa, der gemäß Weltnaturschutzorganisation IUCN unter die strengste Schutzkategorie fällt. Er bildet die Kernzone des Wildnisgebiets Dürrenstein, das auch die Wälder Rothwald II und III, Hundsau und Wandbach umfasst. Diese Zone wird seit 2002 nicht mehr forstwirtschaftlich genutzt - aber als urwüchsige Landschaft nun in vielerlei Hinsicht erforscht. Das Wildnisgebiet ist nur im Rahmen von Führungen zugänglich.

Selbst angesichts der Schönheit Österreichs verdiene die Gegend ihre Auszeichnung als einzigartiges Schutzgebiet, bemerkte Bundespräsident Heinz Fischer, der kürzlich in einer mehrstündigen Wanderung durch den Urwald geführt worden war. Derartige Refugien seien in unserer technisierten Welt nur mehr selten zu finden und müssten daher unbedingt erhalten werden, so das Staatsoberhaupt. Auch ein ganz anderer prominenter Besucher hat dieses Jahr das Wildnisgebiet aufgesucht. Der Kaiseradler "Csörgey", der 2013 in Ungarn mit einem Sender versehen wurde, besuchte im Frühjahr zumindest zweimal die Region. Der majestätische Vogel wurde zwar nicht gesichtet; seine Flugrouten ließen sich jedoch anhand der Daten aus dem Satelliten-Tracking nachvollziehen.

Raubtiere auf Streifzug

Foto-und Haarfallen mit Lockstoffen sollen im Wildnisgebiet für die zuverlässige Erhebung der Wildtiere sorgen. In den Fotofallen, die zur Erfassung dämmerungs-oder nachtaktiver Tiere aufgestellt wurden, werden immer wieder auch Luchse geknipst. Im letzten Winter dürfte sich eine dieser Wildkatzen auch längerfristig im Wildnisgebiet Dürrenstein aufgehalten haben, denn zu Jahresbeginn war sie gleich mehrmals in eine Fotofalle gelaufen. Ihre Fellzeichnung wies sie als Nachkommen der drei Schweizer Luchse aus, die im Nationalpark Kalkalpen ausgewildert worden waren. Auch ein wandernder Wolf wurde bei Steinakirchen fotografiert.

Die Begeisterung angesichts solcher Entdeckungen ist jedoch nicht überall so groß wie bei der Verwaltung des Schutzgebiets und dessen Wildnis-affinen Besuchern. Für die Auswilderung größerer Raubtiere fehlt es an Rückhalt in der Bevölkerung; vor allem Landwirte und Jäger zeigen sich traditionell skeptisch. In der Umgebung machen Gerüchte von illegalen Abschüssen die Runde. In einem Jägerhaushalt wurde schon einmal ein Luchs in der Tiefkühltruhe gefunden, und in einem Fluss wurde eine Luchsmutter entdeckt, die zusammen mit ihren Jungen versenkt worden war.

"Solange Raubtiere als Feindbild oder als begehrte Trophäe gelten, macht eine Stützung ihrer Populationen keinen Sinn", sagt Sabine Fischer, die wissenschaftliche Koordinatorin der Schutzgebietsverwaltung. Das gilt auch für die Bären, die heute aus der Ötscherregion verschwunden sind. "Ohne größere Akzeptanz bedeutet eine Auswilderung nur das Todesurteil für die Tiere." Derzeit gibt es keine neuen Pläne zur Wiederansiedlung der Bären.

Erfolgreich hingegen ist das mehrjährige Projekt zur Wiederansiedelung des Habichtskauzes im und um das Wildnisgebiet Dürrenstein -einer Eulenart, die in Österreich durch direkte Verfolgung und Lebensraumverlust als ausgestorben gilt. 2015 wurden 21 Jungkäuze aus einem Zuchtnetzwerk freigelassen. "Heuer konnten insgesamt acht Brutreviere, darunter fünf sichere Brut, festgestellt werden", berichtet der Forsttechniker und Wildbiologe Christoph Leditznig, geschäftsführender Obmann der Schutzgebietsverwaltung. Erfreulich war, dass die Brut nicht nur in Nistkästen, sondern auch in den Naturhöhlen alter Bäume erfolgte. Zumindest zwölf Jungvögel haben es bis zum Ausfliegen geschafft.

Borkenkäfer als Partner

Die fortlaufende Bestandsaufnahme von Tieren, Pflanzen und Lebensräumen zählt zu den Forschungsschwerpunkten im Wildnisgebiet, ebenso wie das langfristige Monitoring etwa der Wald-und Klimaentwicklung, der Wildtierpopulationen oder auch der Neobiota, also der eingewanderten Arten. Ein dritter Fokus liegt auf Forschungsprojekten seitens der Universitäten, in denen die ökologischen Prozesse im Bergwald beleuchtet werden. "In der Unberührtheit dieses Ökosystems liegt ein ungeheurer wissenschaftlicher Wert", betont Sabine Fischer. "In der Kernzone des Wildnisgebiets läuft die natürliche Dynamik seit der Eiszeit völlig ungestört. Studien zur Waldökologie und -dynamik finden hier ein einzigartiges Forschungsobjekt."

Dazu zählt auch die Störungsökologie: Kommt es durch Stürme oder Lawinen zu Verwerfungen, werden die gefallenen Bäume liegen gelassen, um die weiteren Prozesse zu untersuchen: Welche Bäume entwickeln sich, und wie schnell? Welche Tiere nisten sich im Totholz ein? Auch die Borkenkäfer, die in der Forstwirtschaft oft als gefürchtete und verhasste Schädlinge gelten, sind Teil dieser Dynamik: "Borkenkäfer werden von uns nicht als Feinde gesehen, sondern als Partner, die hilfreich sind, um Wirtschaftswälder in einen standortgemäßen Mischwald umzuwandeln", so Fischer. Vor zwei Jahren wurde das Wildnisgebiet um rund 1000 Hektar erweitert; dabei wurden auch weitgehend reine Fichtenforste eingegliedert. "Wir freuen uns dann, wenn die natürliche Umwandlung des Waldes schneller vonstatten geht."

Prächtiger Sternenhimmel

Wildnis kann chaotisch wirken, Angst vor unbestimmten Gefahren auslösen oder aufgrund von Totholz krank und "siech" wirken. Der Natur ihren freien Lauf zu lassen und die Kontrolle aufzugeben, ist ein Ansatz, der daher oft auf tief sitzende Widerstände stößt. Aber aus der Perspektive der Wildnis-Ökologie werden konventionelle Begriffe wie "Unkraut" oder "Schädlinge" überhaupt auf den Kopf gestellt. "Weil sie einer rein anthropozentrischen Sichtweise entspringen, also nur vom Menschen her gedacht sind, bei dem der Nutzungsgedanke im Vordergrund steht", erläutert die Forschungskoordinatorin. Und selbst unter dem Aspekt der Nutzung erscheint ökologische Vielfalt als sinnvoll: "Je diverser ein Wald, umso weniger bedrohlich sind die so genannten Schädlinge, weil es dann natürliche Gegenspieler gibt - zum Beispiel Spechte oder andere Käfer, die sich wiederum vom Borkenkäfer ernähren. Je vielfältiger, desto widerstandsfähiger ist das Ökosystem", resümiert Fischer. Sie selbst ist im Ybbstal, in der Nähe des Dürrensteiner Urwalds, aufgewachsen. "Ich habe schon früh vom Rothwald gehört.

Da man ihn nicht betreten durfte, galt er als geheimnisvolles Gebiet", erinnert sie sich. Ihre Naturverbundenheit wurde schon in der Kindheit durch die Großeltern geweckt. Dass die studierte Biologin vor vier Jahren zum Team der Schutzgebietsverwaltung stieß, sieht sie als glücklichen Zufall.

Auch der Ausfall des Handynetzes ist heutzutage ein Anzeichen der Wildnis, wie man sich auf einer Wanderung in den Rothwald überzeugen kann. Und wer die Nacht im Dürrenstein-Gebiet verbringt, erhält vielleicht die Gelegenheit, ein noch nie gesehenes Sternenlicht zu erleben: Durch einjährige Messungen auf 1500 Meter Höhe wurde nachgewiesen, dass der Nachthimmel über dem Wildnisgebiet eine ähnliche Qualität wie in den chilenischen Anden aufweist - dort, wo sich die größten Sternwarten der Welt befinden. Im "Internationalen Jahr des Lichts" geht der Naturschutz bereits mit Lichtschutz einher: Damit der Blick auf den Nachthimmel über dem Dürrenstein auch künftigen Generationen erhalten bleibt, laufen bereits Bemühungen, dieses Wildnisgebiet auch zum Lichtschutzgebiet erklären zu lassen.

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