Aufbruch zur Therapie mit schnellen Teilchen

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Große Spannung vor dem Start: Das Forschungszentrum MedAustron in Wiener Neustadt nutzt Hochenergie-Physik für die Krebsbestrahlung.

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Große Spannung vor dem Start: Das Forschungszentrum MedAustron in Wiener Neustadt nutzt Hochenergie-Physik für die Krebsbestrahlung.

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Grundlagenforschung wird oft mit einem Obstbaum verglichen, da sie reichhaltige Früchte an technischen Innovationen und neuen Produkten hervorbringen kann. "Aber man weiß letztlich nie, wo und wann man die Ergebnisse verwerten kann", sagt Rolf-Dieter Heuer, Generaldirektor der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN)."Denken Sie nur an den britischen Physiker Paul Dirac, der bereits 1928 das Phänomen der Antimaterie postuliert hat: Dies besagt, dass es zu jedem Teilchen ein Antiteilchen gibt." Ein paar Jahre später wurden Antiteilchen tatsächlich in der kosmischen Höhenstrahlung nachgewiesen. "Aber es sollte noch mehr als vier Jahrzehnte dauern, bis man die Antimaterie zum ersten Mal auch im Krankenhaus genutzt hat, und zwar für diagnostische Untersuchungen mit dem PET-Scanner", erzählt der Stuttgarter Professor. "Der Quantenphysiker Dirac hätte damals wohl nicht einmal in seinen kühnsten Träumen an eine solche Anwendung gedacht."

Partnerschaft mit CERN

Der PET-Scan arbeitet mit Positronen, den Antiteilchen der negativ geladenen Elektronen. Bei diesem bildgebenden Verfahren werden die Positronen in der Wechselwirkung mit Materie sehr schnell aufgelöst, wodurch Licht abgegeben wird. Damit lassen sich zum Beispiel Tumore exakt lokalisieren. Mittlerweile wurde auch eine viel versprechende therapeutische Anwendung der Teilchenphysik entwickelt. Rolf-Dieter Heuer, der über die Forschungsaktivitäten am weltgrößten Teilchenbeschleuniger in Genf wacht, war letzte Woche auch deswegen nach Österreich gekommen: Die Teilnahme an der europäischen Konferenz zur Hochenergie-Physik in Wien verband er mit einem Besuch beim Therapie-und Forschungszentrum MedAustron in Wiener Neustadt, das 2007 eine Partnerschaft mit dem CERN eingegangen ist. Dort soll ab nächstem Jahr die Beschleuniger-Technik bei der Ionentherapie, einer neuartigen Strahlentherapie für Krebspatienten, zum Einsatz kommen.

"Unser Team arbeitet auf Hochdruck, um bald den Betrieb als Ambulatorium aufnehmen zu können", verkündete MedAustron-Geschäftsführer Alfred Zens kürzlich bei einem Pressegespräch. Derzeit wird durch mehrere Tests die medizinische Qualität des Teilchenstrahls geprüft. Zugleich werden Fragestellungen für die geplanten klinischen Studien vorbereitet. Nach der behördlichen Genehmigung soll das Zentrum bis Juli 2016 für die Therapie eröffnet werden. Der Vollbetrieb wird bis 2020 angestrebt: Dann sollen jährlich bis zu 1200 Patienten mit einer Strahlentherapie versorgt werden. Damit erhalten Krebsbetroffene mit schwierig zu behandelnden Tumoren eine neue Anlaufstelle: Vergleichbare Zentren gibt es bislang nur in Heidelberg (HIT), im italienischen Pavia (CNAO) und im japanischen Hyogo (HIBMC).

Wie aber funktioniert diese neue High-Tech-Therapie? Bei der Ionentherapie wird das Krebsgewebe mit geladenen Teilchen bestrahlt: In Wiener Neustadt stehen nicht nur Protonen, sondern auch die noch stärker wirksamen Kohlenstoff-Ionen als Strahlentherapien zur Verfügung. Beim Eindringen dieser Teilchen in das Gewebe wird Energie frei, die zur Zerstörung des Tumors führen soll.

Gigantische Geschwindigkeit

Durch die Computer-gesteuerte Technologie kann die Bestrahlung genau auf den Bereich des Krebsgewebes fokussiert werden. Die Ionentherapie gilt deshalb als optimal zur Behandlung von Tumoren in der Nähe von sensiblen Organen, die vor der Bestrahlung geschont werden müssen, zum Beispiel der Augen oder an der Schädelbasis. Mittels exakt gesteuerter Ionentherapie können manche Tumore, die im Nahbereich eines solchen Organs liegen, nun erstmals mit einer ausreichenden Dosis behandelt werden. Zugleich lassen sich die Nebenwirkungen der Strahlentherapie deutlich verringern. Die Ionentherapie bietet somit gegenüber konventioneller Bestrahlung eine gezieltere und schonendere Behandlung.

Bevor die Teilchen in das Krebsgewebe der Patienten gestrahlt werden, durchlaufen sie den eindrucksvollen Beschleuniger- Bereich der Wiener Neustädter Anlage, zusammengesetzt aus über 1000 Komponenten von über 200 Herstellern. Auf der geraden Strecke des so genannten Linac-Bunkers werden die Ionen durch elektrische Wechselfelder auf eine Geschwindigkeit von 36.000 Kilometern pro Sekunde gebracht - das entspricht circa zwölf Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Im Kreisbeschleuniger wird ihr Tempo bei jedem Durchlauf noch weiter erhöht. Die Ionen kreisen hier auf einer Bahn von rund 80 Metern, wobei sie durch starke magnetische Felder auf Kurs gehalten werden. Dort werden die Partikel auf bis zu zwei Drittel der Lichtgeschwindigkeit endbeschleunigt: Mit rund 200.000 Kilometer pro Sekunde werden sie dann in einen der vier Bestrahlungsräume des Zentrums geführt.

Neben Fixstrahlen gibt es in der Hangar-artigen Halle von Med- Austron auch ein 220 Tonnen schweres Drehgestell, das die Bestrahlung aus beliebigen Winkeln ermöglicht. Bei dieser "Protonen-Gantry" sorgen adaptierte Industrieroboter dafür, dass die Patienten exakt positioniert sind.

Erforschung neuer Zielgruppen

Die Kosten pro Behandlungszyklus werden im europäischen Schnitt, je nach Krebsart, mit 20.000 bis 30.000 Euro beziffert. Die Abgeltung soll in Österreich via Sozialversicherung erfolgen; das Ausmaß der Kostenübernahme wird derzeit verhandelt.

Wer medizinisch von der neuen Behandlung profitieren kann, soll nun in klinischen Studien abgeklärt werden. "In fünf bis zehn Jahren werden wir deutlich mehr wissen", prognostiziert der Radio-Onkologe Richard Pötter. Neben den wenigen bislang gesicherten Indikationen gelte es nun, "Fenster zu öffnen", um neue Zielgruppen für diese Behandlung zu definieren: "Patienten mit größeren Tumoren, etwa in der Lunge oder im Becken, werden heute ebenso als geeignete Kandidaten diskutiert", wie der Leiter der Universitätsklinik für Strahlentherapie am Wiener AKH zu berichten weiß: "Auch Sarkome, also Knorpel-, Knochen- und Weichteiltumore, können mit der Ionentherapie wahrscheinlich deutlich besser geheilt werden. Da gibt es schon sehr berechtigte Hoffnung."

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