Aufgewühlte Anatomie einer rebellischen Seele

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Die Festspiele Reichenau zeigen eine dramatisierte Fassung von Arthur Schnitzlers "Fräulein Else“ mit einem gewagten Sprung in die Gegenwart. Der Regie von Alexandra Liedtke gelingt es allerdings nicht, aus Else eine heutige Figur zu konzipieren. Der Relevanz von Schnitzlers Stoff für heute stehtdiese Inszenierung eher ratlos gegenüber.

Schnitzlers 1924 entstandene Monolog-Novelle "Fräulein Else“ spielt am 3. September 1896 und zeigt ein Seelendrama, dessen heutige Gültigkeit zumindest nicht selbstverständlich, wenn nicht gar fraglich ist. Denn die Novelle, die Stefan Slupetzky im Auftrag der Festspiele Reichenau für die Bühne dramatisiert hat, handelt gänzlich vom Seelenleben einer leidenden jungen Frau aus gutbürgerlichem, aber ökonomisch zerrüttetem Hause, die zwischen dem Anspruch autonomer Lebensgestaltung (die erotische Wahlfreiheit durchaus inkludiert) und den gesellschaftlichen Konventionen zerbricht.

Tat der Freiheit endet doch in der Scham

Else wird durch den Vater, einem genialen Advokaten aber notorischen Spieler und Spekulanten, in eine aporetische Lebenssituation gebracht. Auf die erotische Attraktivität der Tochter setzend, wird sie brieflich aufgefordert, den vermögenden Kunsthändler Dorsday um 30.000 Gulden Darlehen zu bitten, andernfalls sei alles verloren. Da, wie dieser ältliche Lebemann meint, alles im Leben seinen Preis habe, verlangt er als Gegenleistung, Else 15 Minuten nackt sehen zu dürfen. Zunächst rebelliert das "hochgemutige“ Fräulein, wie sie sich wiederholt sarkastisch nennt, gegen ihren Status als Tauschobjekt mit wilden Libertinage-Fantasien. Dann gibt sie dem voyeuristischen Verlangen auf eigenwillige Weise nach um am Ende aus sittlicher Verzweiflung doch vom resignativen Gefühl des Nichtmehrweiterlebenkönnens überwältigt zu werden. Nachdem sie Dorsday nämlich die Exklusivität verweigert und einen - euphorisch als emanzipatorische Freiheitstat und Widerstand gegen die Normen sowie die verlogene Scheinheiligkeit der Gesellschaft verstandenen - Akt der Selbstentblößung vor den versammelten Hotelgästen inszeniert, dominiert letztendlich doch das Gefühl der Scham und sie entzieht sich den Konsequenzen durch eine Überdosis Veronal.

Von der Tatsache mal abgesehen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse (ökonomische Unsicherheit, moralische Desorientierung, Auflösung der sozialen Zusammenhänge, Egoismus und Materialismus), die Schnitzler in der Novelle subtil nachzeichnet mit unserer Gegenwart durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen, ist die Evidenz des verhandelten Konflikts nicht gerade zwingend. Darüber hinaus hat Regisseurin Alexandra Liedtke, die Ehefrau des Burgtheaterintendanten Matthias Hartmann, es auch nicht geschafft, aus Schnitzlers Else eine heutige Figur zu konzipieren. Rot glänzenden Converse-Schuhe machen aus Else noch keine Gestalt der Gegenwart.

Die Regie lässt Wasmuth im Stich

Einigen Mut hat sie bewiesen, die Rolle der Else mit der unerfahrenen, jungen Merle Wasmuth zu besetzen. Denn die Novelle behandelt die Konflikte ausschließlich aus der Perspektive der Titelfigur, sodass sie die 90 Minuten tragen muss. Die Oberflächlichkeit der Dialoge mit den anderen Figuren - dem Cousin Paul (Alexander Rossi) der ein Verhältnis mit der verheirateten Cissy Mohr (Karin Kofler) hat, der reichen Tante (Marianne Nentwich) oder mit dem Herrn von Dorsday (Dietrich Mattausch) - wird durch den inneren Dialog kontrastiert, der die extremen Affekte und Emotionen, die widersprüchlichen Fantasien, Selbstbilder und Gedankensprünge Elses offenbart. Es gelingt Wasmuth aber nur manchmal, diese nuancenreichen Innenräume der Figur überzeugend auszuleuchten. Immer wieder hat man das Gefühl, als spiele sie bloß. Kaum vermag sie die Exzentrik, die Zerrissenheit, die sich steigernde Selbstauflösung, den inneren Kampf mit allen widersprüchlichen Gefühlslagen wie Hoffnung, Erleichterung, Ratlosigkeit, Angst, Wut, Verzweiflung der 19-Jährigen glaubhaft zu gestalten. Dabei wird sie von der etwas biederen Regie auch sträflich im Stich gelassen. Dort wo diese eingreift, zum Beispiel begleitet der Page (Robert Finster) Elses innere Stimme mit einem (zunehmend nervenaufreibenden) Geigenspiel oder durch Videoeinspielungen, die nicht viel anderes zeigen als die Figuren vergrößert und nur gelegentlich radikal subjektiviert, d. h. verfremdet, verrät sie eher Ratlosigkeit gegenüber der Relevanz von Schnitzlers Stoff für uns heute.

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