Aufstand gegen die Pflichtpropaganda

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Vor 90 Jahren wurde siegfried lenz geboren. Mit seinem Roman "Deutschstunde" schaffte er den Durchbruch, dem Thema Pflicht widmete sich auch jener Roman, der nun postum erschienen ist.

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Vor 90 Jahren wurde siegfried lenz geboren. Mit seinem Roman "Deutschstunde" schaffte er den Durchbruch, dem Thema Pflicht widmete sich auch jener Roman, der nun postum erschienen ist.

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Er stand auf der Seite jener, die es zu nichts Rechtem gebracht hatten, er kümmerte sich um die Verlierer, die mit leeren Händen da standen, weil ihre moralischen Standards höher waren, als es ihrem Fortkommen guttat, er schätzte die Helden der Passivität, die stillen Grübler und ernsten Fragensteller und gab ihnen in seinen Büchern den Vorzug vor jenen, die im Licht standen. Bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs war Siegfried Lenz zur Stelle, um wie Heinrich Böll einzugreifen ins Geschehen der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Er bot sich an als eine moralische Instanz, die dem wirtschaftlichen Aufstieg in der Ära Adenauer eine kritische Sicht auf die Dinge entgegenhielt.

Konsum bedeutete ihm gar nichts. Er war für Lenz der sichtbare Ausdruck einer Mentalität der Verdrängung, ein Stillhalteabkommen mit einer Generation, die sich gerade noch im Krieg befunden hatte und sich jetzt selbstvergessen damit zufrieden gab, mit kostbaren Waren beglückt zu werden. Die Politik brachte die Leute dazu, in die Zukunft zu blicken, der Optimismus war die Parole der Stunde.

Dringende Mahnung

Im Roman "Der Mann im Strom" von 1957, seinem dritten von insgesamt fünfzehn, lenkte Lenz die Aufmerksamkeit auf einen, der an der Zeit des Aufbruchs aus Altersgründen nicht teilhaben sollte. Als Taucher ist er eigentlich zu alt, also möge er sich gefälligst mit dem Ruhestand abfinden. Tut er aber nicht, und so begeht er etwas Illegales, als er Dokumente fälscht. Und Siegfried Lenz, der gute Mensch von Hamburg, findet das auch noch ganz in Ordnung. "Die Papiere sind ihr Heiligtum", heißt es, "und wenn du an ihrem Heiligtum kratzt, dann nehmen sie das sehr ernst." Die deutsche Literatur der Zeit, ob von Böll, Grass, Koeppen oder Lenz, schaffen eine Moral, die einer inneren Logik von Gerechtigkeit folgt und mit dem Gesetz nicht vereinbar ist. Das ist nicht einem Aufruf zum Umsturz gleichzusetzen, sondern mahnt die Gesellschaft dringend an, einem Handlungsbedarf nachzukommen.

Hinrichs heißt der Taucher, den wir als einen überaus lauteren und bescheidenen Kerl kennenlernen. Lenz-Bücher neigen überhaupt dazu, Kargheit, Naturnähe, Überschaubarkeit und Langsamkeit, vielleicht sogar Umständlichkeit, als Werte zu inszenieren. Planvoll breitet Lenz Szenen aus, in denen das Geschehen angehalten wird, um den Blick auf etwas zu richten, was einer würdigen Darstellung sonst nicht wert ist. Wenn sich Hinrichs Eier und Speck brät und einen Kaffee dazu aufkocht, singt Lenz das Lob der Einfachheit, die das ganze Glück ausmacht. Eine Wärme dehnt sich aus, eine "wohlige Müdigkeit und die weiche und geheimnisvolle Genugtuung des Sattseins" beweisen, dass es mehr nicht braucht.

Roman für Roman, Erzählung für Erzählung blieb Siegfried Lenz seinem Programm der herzstärkenden Menschenzugewandtheit mit seinem bisweilen doch recht durchschnittlichem Erzählvermögen treu. 1968 aber gelang ihm der erste große literarische Coup, als er den Roman "Deutschstunde" vorlegte. Damit war er schlagartig zur kulturellen Größe und einem bundesdeutschen Paradeliteraten gewachsen. "Deutschstunde", wie Günter Grass' "Die Blechtrommel", Teil der reichhaltigen "Insassenliteratur", wendet sich der Zeit des Dritten Reiches zu. Siggi Jepsen, Zögling in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche, greift in seinem Aufsatz zum Thema "Die Freuden der Pflicht" weit aus, indem er sich an seine eigene Kindheit erinnert, womit Pflicht im Namen des Nationalsozialismus in eine unwürdige Angelegenheit gewandelt wird.

Mit Hilfe der Fantasie tränken

Lenz fand seine Geschichten nicht, er erfand sie. Er stellte sie in ein historisches Umfeld, welches der Überprüfbarkeit standhalten musste. "Aber dieses ausgebreitete, überlieferte faktische Wissen gilt es noch einmal mit Hilfe der Fantasie zu tränken, um die vielen Lücken zu füllen", bekannte er einmal. Literatur kommt so in Bereiche, die dem Historiker verborgen bleiben. Die eigene Erfahrung und Erinnerungen des Schriftstellers, Jahrgang 1926, flossen ins Schreiben ein, wenn er sich Gegenwart und jüngster Vergangenheit zuwandte. Es fiel ihm schwer, sich in Abgründe abzuseilen. Lenz baute sich an friedliebenden Figuren auf, und wenn sie auf die schiefe Bahn gerieten, dann geschah es nicht aus Gründen der Verworfenheit und üblen Gesinnung, sondern aus der Notwendigkeit, ihr Seelenheil oder ihre Lebensenergie zu retten.

Mit "Deutschstunde" gelang Lenz einer der größten Verkaufserfolge der jüngeren deutschen Literatur. Etwas Vergleichbares gelang ihm nur noch mit dem zehn Jahre später erschienenen Roman "Heimatmuseum", eine liebevolle, autobiografisch gesättigte Landbeschreibung Masurens in Anekdoten.

Überraschend ist zwei Jahre nach dem Tod von Siegfried Lenz nun der Roman "Der Überläufer" erschienen. 1951/52 geschrieben, verschwand er in der Schublade. Nachdem sich Lenz nach den überaus zustimmenden Reaktionen auf seinen ersten Roman "Es waren Habichte in der Luft" Hoffnungen auf eine Schriftstellerkarriere machen durfte, war mit einer derart schroffen Abfuhr seines zweiten Buches nicht zu rechnen. Nicht literarische Gründe gaben den Ausschlag, sondern ideologische. Der Verlag wagte es nicht, ein Buch zu veröffentlichen, das einen Soldaten des Zweiten Weltkriegs in den Mittelpunkt rückt, der die Seiten wechselt und bei den Partisanen in Polen weitermacht. In der Zeit des Kalten Krieges wurde das als Verrat am Adenauer-Staat verstanden, der eng den Westmächten verbunden war. Kompromisse ging Lenz nicht ein, einer Abmilderung des Konfliktstoffes stimmte er nicht zu, und so blieb das Manuskript jahrzehntelang ungedruckt.

Tatsächlich stehen harte Sätze im Buch. Für den Deutschen, der sich gerade im Vergessen eingerichtet hatte, müsste ein Bekenntnis wie dieses wie ein Keulenschlag ins Gesicht des Bürgers wirken, der sich gerade auf den von Ludwig Erhard verheißenen Wohlstand freute: "Euch als einzelne hätte ich ertragen können, aber euch als organisierte, pflichtbewusste Deutsche konnte ich nicht ertragen."

Diese sogenannte Pflicht

Gerade dem Thema Pflicht, von Siegfried Lenz in Variationen immer wieder durchgespielt, kommt in "Der Überläufer" besonderer Raum zu. "Diese sogenannte Pflicht", erklärt ein gebildeter Soldat seinem Kumpan Proska, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit ist: "Dieses Zeug haben sie uns unter die Haut gespritzt. Sie haben uns irre damit gemacht, unselbstständig. Die haben versucht, uns durch eine raffinierte Injektion von Pflichtserum besoffen zu machen." Der Student und der etwas ältere Proska werden, als sie desertieren, beide zu Illegalen, weil sie erkennen, dass sie einer Sache dienen, mit der sie nichts zu schaffen haben wollen.

Eine weniger kleinmütige und bange Verlagspolitik hätte sich dem Autor gegenüber zur Verhandlung bereit zeigen können. Am Schluss sehen wir nämlich, wie Proska einen sozialistischen Staat aufbauen hilft, wie er in Verdacht gerät und fürchten muss, wie viele andere aus fadenscheinigen Gründen verhaftet zu werden. Und so flieht er in den Westen, wo er in Freiheit zu leben hofft. Wenn das kein Versöhnungsangebot an den Adenauer-Staat ist! Dass Lenz dennoch dem Verlag Hoffmann und Campe ein Leben lang die Treue gehalten hat, ist den Erfolgen zu verdanken, die sich bald wieder einstellten. Und über das Ungemach von gestern redete man einfach nicht mehr.

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