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Rede zum Anton-Wildgans-Preis 2007.

Ich war 14, als ich in der Bibliothek meiner Eltern ein Buch mit dem Titel "Gedichte. Musik der Kindheit" fand. Musik, damit war ich einverstanden. Kindheit, das war, was ich so halbwegs hinter mich gebracht hatte und wovon ich noch lange nicht befreit war. Wie auch? Ich wusste ja nicht, wohin es im Leben ging, und in meinem schon gar nicht. Ich saß zwischen den Stühlen. Ich war in der Mauser. Ein, gelinde gesagt, schwieriges Alter. "Gedichte. Musik der Kindheit" von Anton Wildgans. Ich nahm das Buch mit in die Schule und las darin in der Mittagspause.

"Was liest du da?", fragte mich das schönste Mädchen der Klasse. Sie war in Begleitung des zweitschönsten Mädchens. Ich hatte nicht gewusst, dass Ohren so glühen können. Ich hatte diesen beiden Mädchen hinterhergeträumt, während sie aufs Moped ihres Freundes stiegen und ich für sie unsichtbar war. Ich hatte den Clown für sie gespielt, ohne dass sie es merkten. Ich hätte barfuß ihre Pausensemmel am anderen Ende der Stadt geholt, wenn sie mich damit beauftragt hätten.

"Musik der Kindheit"

So einfach war es also. Man brauchte nur ein Buch zu lesen, um die Aufmerksamkeit der Mädchen zu gewinnen. Was ich da las?

"Gedichte", antwortete ich.

"Gedichte?", wiederholte das schönste Mädchen ziemlich entgeistert, wobei ich feststellte, dass ihr die Entgeisterung nicht so gut stand wie die Begeisterung.

"Du liest Gedichte?"

"Ja", sagte ich kleinlaut und erwartete meine Strafe, die zweifellos darin bestünde, dass die beiden mich auslachen würden.

Das schönste Mädchen warf mir aber einen anderen Blick zu, einen Blick, den sie wahrscheinlich noch nicht an anderen Menschen ausprobiert hatte, einen Blick, der über uns beide hinausging, der ahnen machte, dass es draußen jenseits der Mauern eine Welt gab, in der wir eines Tages unsere Rollen einnehmen würden, sie die ihre, ich die meine, wobei in ihrem Blick ein Zögern war, eine offene Möglichkeit, eine Lücke, die Möglichkeit einer Überraschung. Es gab also jemanden, der Gedichte las, und zwar in der Mittagspause und an dieser Schule, und keiner hatte davon gewusst.

Die beiden schönsten Mädchen stiegen weiterhin auf die Mopeds ihrer Freunde. Einmal aber warf mir die Schönste einen Blick zu, der irgendetwas wusste, etwas Gemeinsames, ein Geheimnis. Dabei hatte ich ihr gar kein Gedicht vorgelesen.

Gedicht und Geheimnis

Literatur handelt vom Geheimnis, von Räumen der Erinnerung, von Augenblicksräumen, die erst durch Schrift erstehen, von Räumen, die für die Dauer eines Bildes, eines Wortbildes aufleuchten, manchmal auch für länger. Es gibt Romane, die uns Leser über lange Zeit und über die Zeit des Lesens hinaus in ein anderes Licht tauchen, ein zusätzliches Licht, das auch an einem lichtlosen traurigen Tag mit eigenem Schimmer leuchtet. Es gibt Tage, da das schönste Mädchen auf das Moped eines anderen steigt, denn man selbst hat gar kein Moped, und wenn man eines hätte, würde sie in das Auto eines anderen steigen.

Es gibt Tage, da sind die Räume versperrt, es gibt keinen Schlüssel, der sie öffnete. Tage des wortlosen Leidens, der Trauer, der Verzweiflung. Selbst in diese Tage vermag die Literatur vorzudringen, wenn auch das durch Worte vermittelte Leid eines anderen nichts von der Zerstörungskraft des Leids hat, nachdem es uns selbst erfasst hat. In solchen Stunden des Leids erkennen wir, dass das Leid mit Worten nicht zu erfassen ist, zumindest nicht, solange wir im Leid verschwunden sind.

Literatur erschafft Positionen. Sie positioniert ihre Darsteller, umgibt sie mit ihrer je eigenen Aura, ihrem Begehren, ihren Verstrickungen. Indem der Autor seine eigenen Verstrickungen gebrochen, verwandelt auf seine Stellvertreter überträgt - wobei er einen vielstufigen Verwandlungsprozess in die Wege leitet -, leistet er Arbeit an einer zweiten Ordnung, an der wir Leser uns neu ausrichten.

Durch die Jahrhunderte erreicht uns der Gesang der alten Epen, bilderreich und grausam. Sie erzählen von Menschen in ihren Verstrickungen, sie erzählen vom Einspruch von Natur in das Leben, vom Menschen als eingeschrieben in den unauslotbaren Zusammenhang, den wir früher einmal Schicksal nannten. Indem die Dichtung dem Zusammenhang Form gibt, verwandelt sie ihn mit jedem neuen Werk. Emma Bovary, Anna Karenina, Rodion Raskolnikow, Flauberts Frédéric Moreau, Stendhals Fabrizio in der "Kartause von Parma", Julien Sorel in "Rot und Schwarz", Gregor Samsa, die Wanderer Wilhelm Meister und die beiden Heinriche, der Grüne und der vom Rosengarten des Herrn Risach, um nur eine Handvoll zu nennen, halten in unserem Innern einen Ort, der für mehr steht als für das Leben dieser Romanfiguren. Die Geschichte dieser Menschen bildet noch heute unser Herz, um es mit einem altmodischen Ausdruck zu sagen. Es sind die Orte des Menschseins in uns selbst, die die Literatur zu immer neuem Leben erweckt. Ich erliege nicht dem Irrtum, die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts würde uns von den Schattenzonen der Geschichte befreien. Aber ich glaube, wenn die Dichtung nicht aufhört, vom Menschsein zu erzählen, dann werden wir nicht aufhören, uns an uns selbst aufzurichten.

Ich danke Ihnen von Herzen für diesen Preis, der den Namen des Dichters trägt, dessen Gedichte beinahe gegen ein unbesiegbares Moped angetreten wären.

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