Ausbruch aus der Heimat

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Vertreibung aus der Heimat ist völkerrechtswidrig. Freiwilliges Verlassen hingegen kann die Entwicklung fördern. Wer das nie schaffte, dem droht abstumpfende Verheimatung. In einem Vortrag in Salzburg erläuterte der in London tätige Germanist Rüdiger Görner die Ambivalenzen um den Begriff und die Bedeutung von Heimat (gekürzte Fassung).

Unter den Vorzeichen der Globalisierung, man hat sie als Glücksverheißung und Menetekel gelesen, wirken Gedanken über das Heimatliche zwangsläufig provinzlastig. Schon den Romantikern war diese Spannung zwischen großer Welt und Wiesengrund, Heimweh und Fernweh bewusst. Novalis spricht davon, dass alles Denken im Grunde ein Ausdruck von Heimweh sei, freilich als Trieb verstanden, "überall zu Hause zu sein".

In der deutschen Sprache, die wie jede andere - sofern nicht ideologisch pervertiert - ihre Sprecher zu beheimaten versteht, gesellt sich das Ach und Weh zu Heimat und Ferne, dieses "Weh", eine Art Urlaut des Schmerzes, in dem sich etwas Zehrendes ausspricht, das nur in Verbindung mit Heimat und Ferne Sehnsuchtscharakter gewinnt. Sehnsucht entsteht, wenn die Erfüllung des Ersehnten ausbleibt. Heimweh und Fernweh sind im Grunde nicht stillbar.

Grenzziehungen, vereinbarte oder gewaltsam erwirkte Grenzverschiebungen, unverhoffte Grenzöffnungen, physische und mentale Grenzerfahrungen prägen den Gang der menschlichen Geschichte. Grenzen - und damit die Frage nach den Heimaten - sind und bleiben weltweit ein Politikum. Seit dem 19. Jahrhundert wurde man sich bestimmter Migrationsschübe bewusster; Flucht und Vertreibung, ein Leben im Unbehausten, im Provisorium, alles das begann man als Überlebensfrage zu begreifen. Der Begriff des Lagers zum Beispiel nahm verschiedene Bedeutungen an: es wurde im 20. Jahrhundert als Vernichtungsstätte zum Inbegriff des Grauens, als Ort der Internierung zum scharf umgrenzten Bereich von Zwangsgemeinschaften, als Auffang- und Durchgangslager aber auch ein Ort der Hoffnung. Das Lagerleben der Wandervogel-Bewegung hatte seine Lagerfeuerromantik verloren. Aus dem Wandervogel war der Zwangsmigrant geworden, eine Form von Evolution, die der Humanismus nicht vorgesehen hatte.

Vertreibungen aus der Heimat sind, von wem und unter welchen Umständen auch immer veranlasst, völkerrechtswidrig; dagegen kann das freiwillige Verlassen der Heimat entwicklungsfördernd sein. Vielleicht aber versteht sich nur der Vertriebene darauf, andere neu zu beheimaten und damit selbst Heimat zu stiften. Den Vertriebenen nehmen wir zumeist als Fremden wahr, als Träger eines bestimmten Akzents, als einen Fremden, und zwar im Sinne des Soziologen Georg Simmel: Der Fremde ist - laut seiner Definition - nicht der Wanderer, der "heute kommt und morgen geht, sondern der, der heute kommt und morgen bleibt".

Die Heimat ist eine Landschaft gewordene Sphinx, ein domestiziertes Ungeheuer und anziehendes Rätselwesen in einem. Heimat, das ist geistiger Nährboden und ein mit Kitsch vermintes Sehnsuchtsgebiet: Bei jedem Schritt droht ein Kuckucksruf. Heimat, das sind Silcherchöre und Heimstätten für die Produktion von Vorurteilen gegen andere, sind rauschende Wälder, Gebirgsbäche Seenplatten oder Kirschlikör. Will sagen, die Heimat beheimatet das Stereotype, das sie für veränderungsresistent erklärt.

Heimat ist vieles, ist ...

Heimat, das ist der durch Hausberge verstellte Welthorizont. Man vergegenwärtige sich allein, wie Georg Trakl den Salzburger Mönchsberg bedichtet hat, in faszinierend bedrohlichem Leuchten, in seiner unheimlichen Schönheit, aber auch in seiner in jedem Sinne Unübersteigbarkeit. Ins Flachland ausgewandert wird man gerade die Erinnerung an den heimischen Hausberg nicht los. Heimat gleicht einer emotionalen Bodenhaftung; sie erdet uns und leitet die Blitze des Weltgeschehens ab. Heimat ist ein bestimmter Geruch, ein Klang, ein Rhythmus, eine Landschaft vor allem; man könnte die Heimat das fermentiert Angestammte nennen. Das Ferment sind unsere Projektionen, seelische Regenerationsbedürfnisse, die wir als zeitweilige Rückkehrer mit dem Gang in die Heimat verbinden. Wer sie dagegen nie verlassen hat, dem droht eine potenziell abstumpfende Verheimatung.

Der Anti-Heimatliteratur, in Österreich war sie in den sechziger und siebziger Jahren besonders ausgeprägt, von Franz Innerhofer bis Peter Turrini und Michael Scharang, blieb es vorbehalten, diese Heimatverwurzelung als neurotischen Zustand zu beschreiben, als Alptraum und Objekt berserkerhafter Wutanfälle gegen die Zumutungen der Heimat.

Immer sind es die Extreme, an denen sich Grundsätzliches klärt und entscheidet; im Falle unseres Verständnisses von Heimat dürfte es unser Verhältnis zum Vertriebenen sein, das Wesentliches darüber aussagt, ob wir die Heimat für integrationsfähig halten, und welchen Grad von Anpassung wir vom Immigranten an unsere heimatlichen Gegebenheiten erwarten. Als Heimat erinnern Vertriebene an das unwiederbringlich Verlorene, das von anderen Besetzte, Fremdbestimmte, im buchstäblichen und übertragenen Sinne Enteignete. Mähren zum Beispiel. Der Name des einst markgräflichen Kronlandes klingt nach Mär, nach Märchen; reimbar mit Ähren, Fähren, aber auch mit dem Schwären von Wunden. Sigmund Freud verließ seine mährische Heimat, Gustav Mahler, im böhmisch-mährischen Grenzgebiet aufgewachsen, auch. Gregor Mendel nicht. Er blieb dort, um die Vererbungsgesetze zu entdecken.

Soll man fragen, ob Freud seine Traum- und Triebtheorie auch dann entwickelt hätte, wenn er in Mähren geblieben wäre? Oder ob unter diesen landsmannschaftlichen Voraussetzungen Mahler seine Symphonien ebenso komponiert hätte? Anders - und eine Spur weniger sinnlos - gefragt: Wie viel Mährisches wird in dieser Musik noch hörbar, wie viel davon in Freuds Psychoanalytik erkennbar oder unterbewusst spürbar? Leichter und schwerer haben wir es in dieser Hinsicht mit Leos Janácek, in dessen Kompositionen die Sprachmelodie der mährischen Walachei nachklingt, exzessiv sogar, wodurch er dem nationalistischen Panslawismus eine Stimme verlieh. Geistig fruchtbares Mähren: Was wäre die biologische Wissenschaft ohne die in einem Brünner Klostergarten gewachsenen Erbsen des Gregor Mendel: die Vererbungslehre als mährische Erbschaft - oder: die Heimat als unauslöschliches Erbgut.

In der Genetik der Heimat spielt das Todesgen eine gerade auch literarisch wirksame Rolle. Ich denke an Hermann Burgers Roman "Schilten", in dem ein Dorfschullehrer nicht Heimatkunde lehrt, sondern Todeskunde. Sieht man sich hier, an der Salzach, mitten in der betörenden Schönheit dieser Stadt, im ehemals Österreichischen Hof, gebeten, etwas über Heimat zu sagen, dann kann, dann darf dies nicht geschehen ohne Verweis auf Jean Améry, der beharrlicher als irgendjemand nach der Zuträglichkeit von Heimatgraden für das menschliche Befinden fragte, und der sich hier das Leben nahm. Kann man etwa umhin, das Kapuzinerschlösschen in Sichtweite, von Stefan Zweig zu sprechen, der hier zum Migranten wurde, verbannt in die Heimatlosigkeit, von Mozart natürlich auch, der hier heimatlos werden wollte, weil er die beklemmend schönen Engen nicht länger ertrug?

Heimat in die Zukunft denken

Heimat bedeutet Kindheit und Schmerzen, heißt zu spüren, wie das einst Unbeschwerte belastet wird, erblich, sozial, psychologisch. Man spricht vom Heimatkreis; und damit ist nicht nur ein Nummernschild gemeint, sondern auch das Kreishafte der Heimat, das Um-sie-Kreisen-Müssen, lebenslang. Ein S mehr und aus dem Kreisen wird ein Kreißen, ein Gebären, weswegen die Heimat grammatisch und inhaltlich weiblich sein muss. Sie bleibt Entstehungsgrund, Verankerungsbereich im Zeitalter der Globalität. Das Kleine, Überschaubare ist ebenso ihr Attribut wie das Monströse ihrer Verstricktheit in nationaler Schuld.

Einer, den man nicht kennt, werde uns, so lesen wir in einem der späten Gedichte Rainer Maria Rilkes, "plötzlich" eine Heimat versprechen, "die er nicht kannte". Und der Dichter setzt hinzu: "Heimat und Zukunft". Gemeint kann damit vieles sein - eine Heimat in der Zukunft, die Zukunft als etwas unerwartet Beheimatendes, das Unbekannte als der Ort, der eine ganz andere Art Heimat stiftet, als dies sich unser nostalgisches Gemüt träumen lässt.

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