"Auschwitz ist möglich"

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Friedrich Heer als Pionier der jüdisch-christlichen Verständigung.

Friedrich Heer wuchs als einziger Sohn des Versicherungsangestellten Leonhard Heer und seiner Frau Maria, geborene Gohde, im vierten Wiener Gemeindebezirk auf. Er war - in seinen eigenen Worten - "kleinbürgerlicher Herkunft", besuchte aber ab 1927 das Akademische Gymnasium, eine Schule, die ihn zutiefst prägte.

Er hatte dort das Glück, mit John Edelmann und besonders mit David Ernst Oppenheim zwei Professoren zu begegnen, die er als "die größten Lehrer meines Lebens" bezeichnete. Oppenheim wurde sein "geistiger Vater", dessen "gelebter Humanismus" ihn zutiefst beeinflusste. Heer beschrieb ihn, der ein Mitglied von Sigmund Freuds Mittwoch-Gesellschaft und später der Individualpsychologischen Vereinigung Alfred Adlers war, als "einen aufgeklärten Atheisten", "voll echter Achtung für jede echte Überzeugung".

Nach dem "Anschluss" besuchte Heer das Ehepaar Oppenheim in aller Offenheit. 1942 wurden David Ernst und Amalie Oppenheim nach Theresienstadt deportiert; Oppenheim starb dort 1943 aus Mangel an Medikamenten, seine Frau überlebte. Die beiden Töchter konnten nach Australien flüchten. Oppenheims Enkel, der australische Bioethiker Peter Singer, veröffentlichte 2003 ein berührendes Buch über seinen Großvater, das 2005 auch auf Deutsch herauskam.

Kontakt zum Widerstand

1938 promovierte Heer an der Universität Wien mit einer Dissertation über das Mittelalter. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte Heer ab 1940 als Unteroffizier der deutschen Wehrmacht. Er stand in einem vorsichtigen Kontakt mit Widerstandskreisen, mit Viktor Reimann und Roman Karl Scholz. Am Institut für österreichische Geschichtsforschung, das er von 1937 bis 1939 absolvierte, gehörte er einem regimefeindlichen Studienzirkel an. Heer wurde insgesamt elfmal von den Nazis verhaftet und erhielt 1963 die goldene Ehrennadel der österreichischen Widerstandsbewegung. Die Publikation seiner Notizbücher aus dem Krieg, die er selbst noch plante, wäre sehr zu begrüßen.

Neben seiner Prägung durch David Ernst Oppenheim war auch die Begegnung mit osteuropäischen Juden 1935 auf einer Polenreise wesentlich. Er erinnerte sich daran 1978 im Rundfunk: "Ich sehe diese polnischen Juden vor mir, am Straßenrand, stehen und schweigend sitzen, schwer vom Alter, vom Kummer, tiefes schweigendes Leid in den schweren Augen, im langen Bart. 1935. Sie wissen noch nicht, dass man sie wenige Jahre später an ihrem Bart in den Tod zerren wird, dass junge ss-Buben, Rotzbuben fürwahr, sie johlend zwingen werden, sich selbst den Bart abzuschneiden." Im Krieg wurde er auch Zeuge eines winzigen Ausschnitts der Shoah, woran er sich wieder im Rundfunk 1980 erinnerte: "In der Grenzstadt Jassy sah ich, wie Geflügel auf einem offenen Markt, ein Schock Kinder mit durchschnittener Kehle auf einem Platz rund um ein Denkmal liegen: Judenkinder. Rumänen haben das gemacht."

1955 veröffentlichte er den Aufsatz "Judentum und österreichischer Genius", der die bis heute gültige Feststellung enthält: "Die Provinzialisierung des heutigen Geisteslebens in Österreich, die Niveaulosigkeit, der Mangel an Weltgültigkeit, an der Befassung auch mit echten weltweiten Fragen ist eine direkte Folge der Vernichtung und Austreibung der Juden aus Österreich."

Ab den sechziger Jahren begann Heer sich mehr und mehr mit der Geschichte des christlichen Antisemitismus, mit der Vorgeschichte der Shoah und mit der Geschichte des europäischen Judentums zu befassen. Dies lag zum Teil in der Zeit, denn in seinen zahlreichen Vorträgen und Artikeln - auch in der Furche, deren Redakteur er von 1949 bis 1961 war - verfolgte und begleitete Heer genau die Diskussionen um Rolf Hochhuths Stück "Der Stellvertreter", um den Eichmann Prozess und um das Zweite Vatikanische Konzil.

Jüdische Weltliebe

Neben seiner publizistischen Arbeit lehrte Heer an der Universität Wien als Dozent für die "Geistesgeschichte des Abendlandes". 1965 begann er mit jenen Vorlesungen, die 1967 und 1968 in seine beiden auf diesem Gebiet wichtigsten Bücher, "Gottes erste Liebe" und "Der Glaube des Adolf Hitler", mündeten.

"Gottes erste Liebe" ist eine groß angelegte Abrechnung mit dem sich im frühen Christentum formierenden theologischen Antijudaismus und Antisemitismus, der laut Heer "das Arsenal für die Verdammung der Juden bis zum heutigen Tage bildet". In "Gottes erste Liebe" stellte Heer einem klerisierten und privatisierten Christentum, das eine Vermönchung der Laien anstrebt, die jüdische Welt-und Menschenliebe entgegen, die er nicht müde wird, zu beschreiben.

In "Der Glaube des Adolf Hitler" analysierte Heer die mentalen und politischen Wurzeln und Ursachen des Nationalsozialismus und versuchte den Nachweis zu führen, dass "der religiös-politische Glaube des österreichischen Katholiken Adolf Hitler einem vulgären christlichen, ja katholischen Glauben breiter Schichten von Christen" entsprach (s. dazu den Beitrag von Wolfgang Müller-Funk, Seite 21 ff.).

Heer war überzeugt davon, dass das Christentum und das europäische Denken ohne jüdisches Salz und ohne jüdische Intellektualität nicht denkbar seien und nicht bestehen könnten. Er plädierte daher für die Wiedereinwurzelung des Christentums in das Erdreich, "aus dem es stammt: in jüdischer Frömmigkeit, jüdischer Gottesfurcht, Menschenliebe, Erdliebe, Weltliebe, Weltfreude, Geschlechtsfreude, Gegenwartsfreude und Zukunftshoffnung."

In späteren Jahren war Heer auch mit einzelnen Persönlichkeiten der Wiener jüdischen Gemeinde befreundet, darunter mit Leon Zelman, in dessen Zeitschrift Das jüdische Echo er regelmäßig publizierte. Durch Heer und August Maria Knoll lernte der junge Leon Zelman, der das Ghetto von Lodz überlebt hatte, in den späten vierziger Jahren die Bedeutung der Wiener jüdischen Geschichte kennen. In seiner Autobiografie erinnert sich Zelman: "Von ihm lernte ich erst den geschichtlichen Hintergrund des Judentums kennen. Er gab mir das Gefühl, als Jude wichtig zu sein. Durch Heer und Knoll fing ich an zu erfassen, an welch einem Platz ich gelandet war. Jetzt erwachte in mir erst das Interesse am Judentum auch auf einer geistigen Ebene."

"Der 150-prozentige Freund"

Simon Wiesenthal beriet Heer bei seinem Buch "Jeder Tag ein Gedenktag". Über seine Freundschaft mit Heer sagte Wiesenthal: "Er bejahte meine Arbeit und sagte, dass sie wichtig sei. Er kannte die jüdische Tragödie besser als viele Juden sie kennen, und er war der 150-prozentige Freund."

Zu Heers aufklärerischem Engagement gehörten auch zahlreiche Reden, zum Beispiel 1981 anlässlich von 25 Jahren Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich. Unermüdlich warnte er vor einer Wiederholung von Auschwitz; 1975 sagte er vor der Lagergemeinschaft Auschwitz: "Ohne Wissensbildung gibt es keine Gewissensbildung. Auschwitz ist eine Möglichkeit des Menschen, die täglich praktiziert werden kann. Ganz ohne schlechtes Gewissen."

Heers Kampf gegen den Antisemitismus und seine Verteidigung des Judentums gehörten zu seinen wichtigsten Pionierleistungen. Er war dabei mit vielen Analysen seiner Zeit weit voraus und wurde nicht umsonst von vielen Seiten angegriffen oder ignoriert.

Die Historikerin und Publizistin ist u. a. Autorin von "Friedrich Heer. Eine intellektuelle Biographie" (Tyrolia 1995).

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