Ausmerzen der Vergangenheit

"Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird", heißt es bei Martin Walser. Julius Wagner Ritter von Jauregg, Nobelpreisträger von 1927 (für seine Fieber-Therapie bei Syphilis), war beim Einmarsch der Deutschen 81. Eine Wiener Historikerkommission hat nun "entdeckt", was man im Katalog der Nationalbibliothek jederzeit nachschlagen kann: Dass Wagner-Jauregg sich unter anderem mit Fragen von Erbkrankheiten und Volksgesundheit beschäftigt hat. Auch dass er noch knapp vor seinem Tod 1940 erfolglos um Aufnahme in die NSDAP ansuchte, ist lang bekannt. Deshalb und weil er die Zwangssterilisation "nicht arbeitsfähiger" geistig Behinderter befürwortete, verlangen manche nun nach einem bekannten Schema von Reiz und Reaktion, man möge ihm sein Ehrengrab wegnehmen und seinen Namen aus dem öffentlichen Gedächtnis radieren.

Julius Wagner-Jauregg befand sich mit seinen Ansichten zur Eugenik im wissenschaftlichen Mainstream, aus dem die NS-Rassenhygiene sich speiste. Für die "Unfruchtbarmachung der Minderwertigen" trat auch der Sozialdemokrat Julius Tandler ein. In den Kirchen waren keineswegs alle für Absonderung statt Sterilisation. Noch heute ist Zwangssterilisation in bestimmten Fällen möglich.

Wagner-Jauregg war kein Verbrecher. Er war ein Gegner der Euthanasie. Müssen Nobelpreisträger Lichtgestalten sein? (Konrad Lorenz war keine.) Vertragen wir keinerlei Schattierung? Genügt es nicht zu wissen, dass Karajan ein Nazi war, muss man seinen Namen deshalb austilgen? Die zeitgeistige Revidier-Beflissenheit führt zu unhistorischem Denken, zu Säuberungsaktionen in der Vergangenheit. Und die aktuellen Tendenzen der Eugenik? Wissen wir, wie heute geachtete Befürworter der Embryonenforschung in 60 Jahren moralisch beurteilt werden?

Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin in Wien.