Bartgeier - © Foto: Pixabay

Bartgeier: Rückkehr der Knochenbrecher

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Angedichtete Horrorgeschichten wie Kinderraub und das Wegtragen von Lämmern haben zur Ausrottung des größten Vogels unserer Berge geführt.Nach gut 120 Jahren startet jetzt aber wieder ein Bartgeier-Brutversuch in den österreichischen Alpen.

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Angedichtete Horrorgeschichten wie Kinderraub und das Wegtragen von Lämmern haben zur Ausrottung des größten Vogels unserer Berge geführt.Nach gut 120 Jahren startet jetzt aber wieder ein Bartgeier-Brutversuch in den österreichischen Alpen.

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Ein kalter Wintertag im Nationalpark Hohe Tauern: ein dunkler großer Schatten zieht mit beachtlicher Geschwindigkeit über einen verschneiten Hang. Ein Jäger, Zeuge des Geschehens, entdeckt wenig später einen riesengroßen Vogel mit langen schmalen Flügeln und einem markanten keilförmigen Schwanz. Der Vogel gleitet ohne Flügelschlag knapp am Berghang entlang, kreist kurz über einen der ersten Lawinenkegel des heurigen Winters und landet auf den Überresten einer in der Vorwoche abgestürzten Gämse. Raben, Steinadler, Mäusebussard und Fuchs hatten in den Tagen zuvor schon dazu beigetragen, dass von der Gämse nur noch Haut und Knochen übrig sind.

Der riesengroße Vogel reißt mit seinem spitzen langen Schnabel einige wenige verbliebene Muskelreste von dem offen daliegenden Oberschenkelknochen, nimmt ihn dann in den Schnabel und verschluckt den gut 20 Zentimeter langen Knochen kurz würgend als Ganzes. Mit dem gesamten Vorderlauf in den Fängen öffnet der Vogel seine fast drei Meter messenden Schwingen und erhebt sich ohne einen Flügelschlag in die Lüfte. Er kreist kurz, um an Höhe zu gewinnen, und fliegt dann direkt auf den ihn beobachtenden Jäger zu.

Knochenfracht abgeworfen

Der beeindruckte Mann vernimmt das Rauschen der Federn, als der Vogel in nur zehn Meter Entfernung vorbeifliegt und ihn dabei neugierig beobachtet. An der anderen Talseite angelangt lässt der Vogel seine Knochenfracht gezielt aus zirka 50 Meter Höhe auf eine flache Felsplatte fallen. Sekunden später landet der Vogel bei den durch den Aufprall zerbrochenen Knochen, nimmt diese einzeln auf und verschluckt sie. Augenblicke später verschwindet der große Unbekannte so schnell, wie er gekommen war. Nach Rücksprache mit einem Nationalparkmitarbeiter lüftet sich das Geheimnis um den unbekannten Gast: es war ein Bartgeier!

Unzählige Mythen ranken sich um den Bartgeier (Gypaetus barbatus), den größten und elegantesten Vogel unserer Berge. Und gerade diese angedichteten Geschichten wie Kinderraub und das Wegtragen ganzer Schafe (Lämmergeier) haben schließlich vor über 100 Jahren zu seiner Ausrottung geführt. Durch zahlreiche wissenschaftliche Studien und intensive Öffentlichkeitsarbeit ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, ein realistisches und vollkommen anderes Bild des Bartgeiers zu vermitteln: das eines harmlosen, aber zugleich faszinierenden Aasfressers, der in den Alpen auch heute noch ausreichend gute Lebensbedingungen vorfindet.

Wiederansiedelung

Die Alpen sind ein grandioser und in weiten Teilen für mitteleuropäische Verhältnisse immer noch naturnaher Lebensraum, der sowohl von Wildtieren als auch vom Menschen höchste Leistung und Anpassung abverlangt. Währenddem Wolf, Bär und Luchs derzeit aus eigener Kraft in die Alpen einwandern, war beim Bartgeier aufgrund seines nur mehr in Restbeständen vorhandenen Vorkommens in Europa (Pyrenäen, Korsika, südlicher Balkan und Kreta) mit einer natürlichen Wiederbesiedlung nicht zu rechnen. Deshalb fasste ein internationales Team um Hans Frey (Veterinärmedizinische Uni Wien) den Entschluss, ein Wiederansiedlungsprojekt in den Alpen ins Leben zu rufen. Grundlage desselben sollten ausschließlich Nachzuchten in Gefangenschaft sein.

1976 wurde damit begonnen, in Zoos gehaltene Bartgeier in einer zentralen Zuchtstation in Haringsee (Niederösterreich) zusammenzufassen. Eine größere Anzahl von Vögeln war Voraussetzung für die Zucht, da Bartgeier, was den richtigen Partner betrifft, wohl noch komplizierter als Menschen sind.

Im Jahr 1986 glückte im Rauriser Krumltal erstmals der Versuch, Bartgeier an ein Leben in Freiheit zu gewöhnen. Freilassungen in Frankreich, der Schweiz und Italien folgten. Unter Wiederansiedlung versteht man das Einbringen einer Art in ein Gebiet, in dem diese in historischer Zeit beheimatet war. Voraussetzung für den Erfolg eines solchen Projektes ist eine gewissenhafte Vorbereitung und eine langfristige finanzielle Absicherung.

Bald herzeigbare Erfolge

Als zentrale Voraussetzung müssen die Gründe für das Aussterben der Art bekannt und behoben sein. Wiederansiedlungsprojekte sind zwar sehr publikumswirksam und zeigen sehr bald herzeigbare Erfolge, sind dafür aber auch äußerst zeit- und geldintensiv. Das Zulassen beziehungsweise Ermöglichen einer natürlichen Wiederbesiedlung sollte aber einer Freilassung auf jeden Fall vorgezogen werden.

Im Zuge der Freilassung werden im Frühsommer je zwei in Gefangenschaft geborene cirka 90 Tage alte noch flugunfähige Geier in einer Felsnische ausgesetzt und dort bis zum Erstflug im Alter von ungefähr vier Monaten gefüttert. Fliegen und erfolgreiche Nahrungssuche ist jungen Bartgeiern angeboren, durch das Auslegen von Futter auf Lawinen- oder Schuttkegeln kann das Selbstständigwerden noch erleichtert werden. Spätestens zwei Monate nach den ersten Ausflügen verlassen die jungen Bartgeier ihren Freilassungsplatz und ziehen auf Nahrungssuche kreuz und quer durch die Alpen.

Kindliche Neugier

Beflogen werden bevorzugt Gebiete oberhalb der Waldgrenze mit ausreichend hohen Wild- und Haustierbeständen, deren Überreste (Haut und Knochen) der Bartgeier zu seiner Lieblingsspeise erkoren hat. Durch seine effektive Verdauung kann ein Geier zwar Knochen verdauen und die darin in beachtlicher Menge vorhandenen Nährstoffe nutzen, andererseits bedingt diese Möglichkeit aber auch die todbringende Aufnahme von versehentlich verschlucktem Blei (Geschossreste in Wildtieren).

Aufgrund ihrer fast kindlichen Neugier begutachten Bartgeier alles Neue und Unbekannte regelmäßig aus nächster Nähe und überfliegen dabei gezielt Bergsteiger, Jäger und Skitourengeher. In den letzten Jahren wurden in Österreich massive Anstrengungen unternommen, ein funktionierendes Beobachternetzwerk ins Leben zu rufen. Unter der Telefonnummer: 0664-1417429 beziehungsweise der E-Mailadresse: Bartgeier@aon.at wurde eine Bartgeierhotline ins Leben gerufen. In Vorträgen und Pressemeldungen wird außerdem laufend über den Fortgang des Projektes informiert.

Ein Schönheitsideal?

Finanziell unterstützt wird das Bartgeierprojekt vom Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, vom Nationalpark Hohe Tauern, dem WWF, der Frankfurter Zoologischen Gesellschaft, der Veterinärmedizinischen Universität Wien, dem Innsbrucker Alpenzoo, dem Tiergarten Schönbrunn und den verschiedenen Landesjagdverbänden.

Derzeit leben in Österreich 20 bis 25 Individuen dieser Art. Junge Bartgeier sind bis auf einzelne zu Markierungszwecken gebleichte Federn vollkommen dunkel, erwachsene Tiere erkennt man hingegen an ihrer orangeroten Körperunterseite. Diese ergibt sich entgegen alter Sagen nicht durch "Baden im Blut seiner Opfer", sondern durch regelmäßiges Einfärben in eisenoxydhältigem Schlamm. Der Grund dieser außergewöhnlichen Verhaltensweise konnte bis dato nicht gefunden werden - wohl auch, weil man einem Tier das Streben nach Schönheit nicht so einfach zugestehen will.

Im Jahr 2001 kam es schließlich zu einem ersten - leider gescheiterten - Brutversuch in den österreichischen Alpen seit gut 120 Jahren. Auch aktuell stehen die Zeichen wieder auf Brut. Und die mittlerweile sechs erfolgreichen Brutpaare im gesamten Alpenraum lassen auch für Österreich auf Bartgeier-Nachwuchs hoffen.

Der Autor ist Bartgeier-Betreuer im Nationalpark Hohe Tauern.

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