Batya Gur und Israels Brüche

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Ein Roman über die dummen Mutproben der Soldaten.erschreiben kann.

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Ein Roman über die dummen Mutproben der Soldaten.erschreiben kann.

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Nichts gegen Krimis, aber Batya Gur kann mehr. Ihr jüngstes Buch "Stein für Stein" ist eine scharfe Abrechnung mit der israelischen Armee, mit einer menschenverachtenden Geistlosigkeit, die in ritualisierten Spielen ihren Ausdruck findet, mit einem Denken, bei dem der Buchstabe des Gesetzes mehr zählt als das Schicksal von Menschen.

Kommissar Ochajon hat Pause, er hat kein Abonnement darauf, in jedem Buch der israelischen Autorin gegenwärtig zu sein. Das ist wohl auch der Unterschied zur amerikanisch-venezianischen Krimi-Leihmutter Donna Leon, die - wenn sie publiziert - dies nur mit ihrem Kommissar Brunetti tut. Im Kriminalroman läßt sich leicht auch ein Blick auf gesellschaftliche Zustände verpacken, die beiden Autorinnen haben dies für die venezianische beziehungsweise israelische Gesellschaft vorgezeigt. Dabei werden Konflikte leicht verdaulich serviert, keine Leitartikel und Analysen, und darüber hinaus hat der Krimi auch den Vorteil des Vertrauten.

Die Leserin, der Leser haben es leicht, der Kommissar ist bekannt, ebenso seine Vorlieben, Familie, Beziehungsprobleme, ein Stück Heimat eben in einer fremden Welt. Auf diese Heimat zu verzichten und sich ausschließlich einem Konflikt, einem Konfliktbündel zu widmen, die Leserschaft mit neuen Figuren zu konfrontieren, ist in diesem Metier ein Wagnis. Batya Gur ist es eingegangen, und zwar mit Erfolg. Ihre schriftstellerische Qualität merkt man einmal mehr an der Liebe zum Detail, mit der sie auch Nebenfiguren zeichnet und zum Leben erweckt und so auch unsere Rampenlicht-Aufmerksamkeit verleitet, diese Personen wichtiger zu nehmen, als sie tatsächlich für den Handlungsverlauf sind.

Im Fall von "Stein für Stein" ist es der aus Rußland emigrierte Nachtwächter Boris, der als vereinsamter Lyriker in einem Häuschen am Eingang des Moschaw seinen Dienst verrichtet und Zeuge wird, wie Rachela Avni den Grabstein ihres Sohnes in die Luft sprengt. Eine Verzweiflungstat, mit der sie gegen die von der Armee aufgezwungene Inschrift protestiert, die in der standardisierten Kürze verheimlicht, daß ihr Sohn das Opfer eines unverantwortlichen Scherzes geworden ist, einer verordneten Mutprobe. Netzroulette heißt das "Spiel", bei dem jeweils zwei Absolventen des Lehrganges auf dem Stützpunkt der Fliegerstaffel auf das Netz gelegt werden, das die Flugzeuge im Notfall einbremst, um in die Luft geschleudert zu werden. Die Sprengung des Grabsteins ist der Anfang eines Kampfes gegen die Bürokratie, der einem Michael Kohlhaas alle Ehre gemacht hätte und der eine der Bruchlinien der israelischen Gesellschaft offenbart. Dieses tektonische Beben wäre jedoch nur von lokaler Bedeutung, wenn es nur die Menschen in Israel mit ihren spezifischen historischen und politischen Problemen betreffen würde.

Batya Gur nimmt die Geschichte aber auch zum Anlaß für grenzüberschreitende Analysen der existentiellen Befindlichkeit von Menschen und Beziehungen: "Das Ich, das gezähmt und versteckt ist, das er sein Leben lang hinter der Fassade des Alltags hat schlummern lassen. Denn es gibt zwar die Kinder, und es gibt die Familie, sie existieren, und es ist gut, daß sie leben. Aber sie sind das eine, und ich selbst bin etwas anderes. Und die Mahlzeiten und die Famlienfeste und die gemeinsamen Unternehmungen und die Gespräche, all das kommt mir jetzt vor wie eine Art Alibi für dieses Leben, eine Art Ausrede, um weiter zu leben und zu handeln, als ob uns jemand brauchte. Darum achten die Menschen so sehr auf den Rahmen der Familie. Aber für mich hat selbst meine Arbeit den Sinn verloren. Und diese Jahre, all die Jahre, in denen ich mit ihnen zusammenlebte, in denen ich ihr Leben lebte und für sie lebte, kommen mir wie eine vergangene Geschichte vor, eine sehr merkwürdige, die einer ganz anderen Frau passiert ist."

Der einzige Grund, warum dieser Roman vielleicht nicht dieselbe Verbreitung finden wird wie Kommissar Ochajons Versuche, Verbrechen aufzuklären, liegt in der Detailversessenheit, mit der sich die Autorin um Berufsgruppen annimmt. Diesmal ist es die Rechtsprechung. Juristische Feinheiten können spannend sein, sind aber nicht jedermanns Sache.

Stein für Stein. Roman von Batya Gur Berlin Verlag, Berlin 1999. 320 Seiten, geb., öS 291,-/e 21,15

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