Begegnung in der Kathedrale

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Es war in Tours, der alten Stadt an der Loire. Wir hatten den Umweg gemacht, um die Kathedrale St. Gatien zu besichtigen, eine mächtige Basilika aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, berühmt für die Glasfenster, aus denen die Wände des Hauptschiffes fast vollständig bestehen und die die düstere Kirche in ein überirdisches Licht tauchen.

Wir saßen, stumm und staunend, schon eine Weile, als ich ein merkwürdiges Schlürfen vernahm. Neben mir hatte, wie ich jetzt bemerkte, eine reizende Dame von bald achtzig Jahren Platz genommen, die nach Manier der heutigen Reisenden in kurze Hosen und Turnschuhe gesteckt und mit einem Fotoapparat behängt worden war. Das Geräusch rührte daher, dass sie sich entkräftet gerade damit abmühte, ein Riesensandwich zu verzehren. Es handelte sich um eine jener köstlichen gefüllten Baguettes, die die Bäcker in Frankreich allerorts anbieten: Zwischen den zusammengeklappten Deckeln des Brotes fanden sich über einer Schicht Käse Scheiben von Tomaten, Zwiebelringe, Kapern und mit einer rahmigen Sauce übergossene Stücke von Thunfisch. Das Problem der Hungrigen war, dass bei jedem Biss, den sie tat, die rahmige Sauce seitwärts aus dem Baguette tropfte und ihr die Mundwinkel hinablief, von wo sie sie mit einem aufziehenden Geräusch und einer leckenden Bewegung der Zunge dorthin zu befördern suchte, wo sie hingehörte, in den Rachen.

Ich schaute fasziniert und schämte mich für das fundamentalistische Gefühl, das ich in mir aufkommen fühlte und das mich nach einem rigorosen Kirchenwächter sehnen ließ, der die Kurzbehosten und Malmenden jedweden Alters schlicht aus der Kathedrale beförderte. Als sie ging, sah ich, wie die alte Dame vor dem Verlassen der Kirche mühsam das Knie beugte; sie war also, zum Unterschied von mir, ein frommer Mensch.

Der Autor ist Schriftsteller und Literaturkritiker in Salzburg.

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