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Die Ukrainerin Olga Fedorowna und der ukrainische Frost. Zu Besuch in der Uliza Schischko Nr. 31.

W orüber werden Sie schreiben? Über den Frost?" fragt die ukrainische Grenzpolizistin am Flughafen in Charkow. "Gute Idee, ich hab' noch nie über den Frost geschrieben", sage ich. "Aber alle schreiben jetzt über den Frost, Sie müssen noch über etwas anderes schreiben", sagt sie und stempelt mein Einreiseformular. "Gut, ich werde noch was anderes suchen", sage ich und nehme meinen Pass. Und am nächsten Tag, kurz vor Mittag, bei Sonnenschein und minus 30 Grad Celsius finde ich im Haus Nr. 31 in der Uliza Schischko im Charkower Stadtteil Saltowka die Geschichte von Olga Fedorowna und dem Frost:

Ein gutes Dutzend Tote hat in den vergangenen zwei Wochen die Kältewelle in der Ukraine mit Nachttemperaturen bis zu minus 35 Grad Celsius gefordert. "Diesen Frost überlebe ich nicht", fürchtet auch Olga Fedorowna. Drei Mal muss der Besuch läuten, bis sie das Tor zum kleinen Innenhof ihres Hauses aufmacht. Jetzt steht sie da, in Filzpatschen, der schwere Ledermantel offen, darunter eine Wolljacke, darunter ein Rock, darunter eine Hose - die orangenen Blumen am Kopftuch sind die einzigen warmen Farbtupfer. Suska, ihr Hund, begleitet Frau Fedorownas Begrüßung und Kältetod-Befürchtung mit heiserem Gebell. Ihm scheint der Frost im Gegensatz zu ihr nichts auszumachen, er bleibt im Freien, während sie durch den Schnee ins Haus zurückstapft.

Allein ist kalt noch kälter

Seit 1951 wohnt Olga Fedorowna in diesem Haus. 55 Jahre ihres 81 Jahre langen Lebens kennt sie den Winter in der Uliza Schischko, aber sie kann sich nicht erinnern, dass es schon jemals so lange so kalt gewesen wäre. Der Winter 2006 ist der zweitkälteste in der Ukraine seit dem Zweiten Weltkrieg, sagen auch die Meteorologen. Dass Frau Fedorowna die frühere Rekordkälte vergessen hat, und der Frost jetzt besonders kalt ist, mag daran liegen, dass sie damals noch nicht so alt und noch nicht so allein gewesen ist.

Ein Dutzend Mal muss Walentina Awonasewla pumpen, bis endlich Wasser aus dem zur elefantenähnlichen Eisskulptur gefrorenen Leierbrunnen kommt. Und es dauert, bis die unverdrossen den Minusgraden trotzende kleine Frau ihren Blechkübel voll hat. Das Wasser trägt Frau Awonasewla gut hundert Meter die Straße hinunter ins Haus Nr. 31. Die Caritas-Altenpflegerin ist Olga Fedorownas einzige Verbindung zur Außenwelt. Walentina besucht Frau Fedorowna jeden Tag, hilft ihr im Haushalt, bei der Wäsche, begleitet sie zum Arzt oder bei Behördenwegen, hat ein offenes Ohr, wenn Olga Fedorowna sich eine andere Antwort als Suskas Gebell erwartet.

Kinder in den Kälteferien

Insgesamt 60 alte und behinderte Menschen werden von den Mobilen Diensten der Caritas-Charkow nach österreichischem Vorbild und mit finanzieller Unterstützung aus Österreich betreut. Ein Drittel davon sind Hospizpatienten, die man bei ihrem letzten Lebensabschnitt begleitet. "Viele alte Menschen in Osteuropa stehen am Ende eines arbeitsreichen Lebens vor dem Nichts", erklärt der Wiener Caritas-Direktor Michael Landau das österreichische Engagement bei derlei "verborgenen Katastrophen": "Es sind immer die gleichen, die auf der Strecke zu bleiben drohen: die Alten und die Kinder."

Während aber den Alten der Frost zu schaffen macht, ziehen die ukrainischen Kinder einen Vorteil aus den arktischen Temperaturen: Sie haben schulfrei. Auf den Straßen und Plätzen der Stadt sind sie trotzdem nicht anzutreffen; wer nicht unbedingt hinaus muss, bleibt daheim, auch wenn die Thermometer in den Wohnungen nicht über 13, 14, maximal 15 Grad Celsius steigen. Auch in der Wohnung von Nina Petrowna und Anatolij Sergewitsch sind die Heizungsrohre lauwarm. Das Pensionistenehepaar lebt einen Steinwurf von der Uliza Schischko Nr. 31 entfernt in einem abgewohnten Plattenbau aus Sowjetzeiten.

Sowjetnostalgie

Im Gegensatz zu der abgebröckelten Fassade ihres Hauses beschreiben die beiden ihre Erinnerungen an die Sowjetunion in einem wunderschönen Licht: "Wir haben in der Traktorfabrik im Schichtdienst viel arbeiten müssen, aber wir haben ein normales Leben gehabt", sagt Anatolij Sergewitsch: "Wir haben die Wohnung bezahlt, wir haben Essen gekauft und es ist noch Geld geblieben - und heute?" Heute kommen die beiden mit ihrer Pension auf 700 Griwna, umgerechnet keine 120 Euro. Für die Miete geht schon ein knappes Drittel des Geldes weg und seit dem Regierungswechsel vor einem Jahr ist alles teurer geworden, besonders die Lebensmittel: Ein Kilogramm Schweinefleisch kostet 40 Griwna (7 Euro), rechnet Nina Petrowna vor: "Wie soll sich das ausgehen?"

Viele Zweifel an Orange

"Viele, viele zweifeln jetzt, ob sie im letzten Jahr richtig gewählt haben", sagt der Journalist Mikola Fartuschnij von der unabhängigen Kiewer Wochenzeitung Grani (Grenze): "Es war schlecht, aber jetzt ist es auch nicht besser, Präsident Juschtschenko hat seine Versprechen nicht einlösen können." Der einzige Unterschied zu früher ist, meint Fartuschnij, dass er heute für diese Aussage "nicht eingesperrt wird". Bei den Parlamentswahlen im März treten 46 Parteien an, gewinnen wird, "wer bis dahin am wenigsten Fehler macht", und der Journalist hofft trotz allem, dass es wieder der Juschtschenko-Block sein wird. Warum? "Weder Janukowitsch (der Putin-Liebling) noch Timoschenko (die Schöne mit dem Zopf) sind eine bessere Alternative."

Mehr Sorgen als der Ausgang der Wahlen macht Olga Fedorowna ihr durchlöcherter Warmwasserboiler: "Politik interessiert mich nicht!" sagt sie barsch. Als ein Besucher aber ihre Schönheit auf einem Jugendfoto mit der "Ikone der orangenen Revolution", Julia Timoschenko, vergleicht, wird Frau Fedorowna angenehm verlegen und ein wenig redseliger: Selbstverständlich habe sie Juschtschenko gewählt, sagt sie. Und warum? "Weil der jetzt Präsident ist" und sie immer den Präsidenten gewählt habe.

Genüsslich wartet sie, bis die Gesichter ihrer Besucher von Überraschung auf Heiterkeit wechseln und gibt dann zu: "Wenn ich ehrlich bin, habe ich Janukowitsch gewählt, den Juschtschenko hat die Pensionisten beleidigt." Olga Fedorowna verzeiht dem Präsidenten nicht, dass dieser die fliegenden Wahlkommissionen verboten hat, um den Wahlfälschungen Herr zu werden. So musste sie zum Wählen das Haus verlassen - trotz der Kälte. Und obwohl sie sich schon damals gefürchtet hat, dass sie ihn nicht überleben wird - den Frost.

Spenden für die Caritas-Osteuropahilfe erbeten auf das Konto:

PSK 7.700 004, BLZ 60.000

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