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Wohnungsnot, Polizei und stickige Kleinbürgerwelt trieben die österreichische Avantgarde der frühern 1960er Jahre - Mitglieder der "Wiener Gruppe" oder Aktionisten wie Günter Brus - nach Berlin. Die einzige Frau, kaum wahrgenommen auch von dieser virilen künstlerischen Gegenwelt: Elfriede Gerstl (damals mit Gerald Bisinger verheiratet). Ihr Roman Spielräume, der diese Zeit reflektiert, konnte erst 1977 in Heimrad Bäckers edition neue texte erscheinen. Wie passend, dass ihr am 19. Juni der Heimrad-Bäcker-Preis verliehen wurde - drei Tage nach ihrem 75. Geburtstag.

Spät sind sie gekommen, die großen Preise; 1999 gleich im Doppelpack: der Erich-Fried- und der Georg-Trakl-Preis. Zu spät, als dass sich Elfriede Gerstl, die sich so lange unterhalb des Existenzminimums durchschlagen musste, noch hätte darüber freuen können. Und auch ihre Bücher waren lange ein Geheimtipp. Wer aber einmal hineinfindet in ihre ironisch verknappten Formulierungen, kann sie so schnell nicht hinter sich lassen. "manche kommen aus dem staunen nie heraus / manche nie hinein", steht in ihrem jüngsten Lyrikband Mein papierener Garten (siehe Rezension in Furche Nr. 46/2006, Seite 17). Skeptisch und sprachspielerisch geht es auch in ihrer wiener mischung (2001 erweitert zur neuen wiener mischung) oder im Band Alle Tage Gedichte zu. "Jeder Gläubige reizt meinen Widerspruch", sagt Elfriede Gerstl, deren Gedichte sowohl die schönen Metaphern als auch die didaktischen Sentenzen meiden. "alles, was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen", formuliert sie, eine Satz-Schraube Wittgensteins weiterdrehend.

Elfriede Gerstl ist eine Sammlerin - nicht nur vor Wörtern und sprachlichen Wendungen, sondern auch von Hüten und Kleidern. Der Weg zum Trödler war lange auch ein Tribut an ihre Lebenssituation - "ökonomisch wie kommunikativ auf sparflamme", wie sie in ihrem Lebenslauf schrieb -, und die vielen Sammelstücke hat sie in einer ihrer spärlichen biografischen Äußerungen auch als Reflex ihrer Kindheit im Kohlenkeller gedeutet: Gerstl, die mit ihrer Mutter vor den Nazis untertauchte und sich "tot oder schon deportiert stellte", hat eine bürgerliche Lebensform nicht gelernt; wohl aber das Lesen, wenn die Sonne selten genug durch den kleinen Lichtspalt der Verdunkelung drang und die Nazis nicht mit Bajonetten nach ihr gestochert haben.

Jahrzehnte hat es gedauert, bis Elfriede Gerstl über diese Zeit auch nur in verknappenden Andeutungen gesprochen oder gar geschrieben hat. Ihr ist auch hier die Selbstironie näher als das Pathos der Überlebenden. Auch der zornige Rückblick ist ihre Sache nicht, eher der "Blick voraus im Zorn aus Sorge um unser aller Zukunft" - so der frühe Weggefährte Andreas Okopenko, der in ihr und ihren Texten "in unserem postsozialen Zeitalter ein Dennoch" sieht.

"Je enger der Raum ist, umso virtuoser muss die Komposition sein", lobt Wendelin Schmidt-Dengler die lakonischen Gerstl-Texte, in denen es auf die Wortfolge und die kleinsten rhythmischen Einheiten ankommt. Wie bei Peter Altenberg, Franz Kafka oder Konrad Bayer gleiten sie weder in die tiefsinnige Parabel noch in den saloppen Kalauer ab. Demnächst wird in der Edition Splitter Gerstls Kleiderflug neu aufgelegt. Vor allem aber schreibt sie weiter an neuen Texten. Denn Rückblicke mag sie nicht. Auch nicht auf das eigene Werk. CH

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