Beim Arzt dem Elend begegnen

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Im Advent habe ich einen alten Mann weinen gesehen. Derlei kommt in der Öffentlichkeit nicht gerade häufig vor. Aber dieser Achtzigjährige schluchzte so heftig, dass man nicht einfach nicht hinsehen konnte. Es war in der Praxis eines Facharztes für Orthopädie, und wir saßen zu siebt, ein jeder auf seine Weise verkrümmt, im Wartezimmer. Wir ärgerten uns, dass es zwar Friseure, Bankberater, Kosmetikerinnen zusammenbringen, ihre vereinbarten Termine zu halten, man beim Arzt, wenn man pünktlich eintrifft, aber immer sechs andere Pünktliche vorfindet, die vor einem dran sind. Da brachte die Ordinationshilfe den weinenden Greis aus dem Untersuchungszimmer, sodass wir unseren Ärger vergaßen und uns stattdessen, ratlos vor dem Kummer eines anderen, betreten ansahen.

Er war ein wackeliger Mann, der einst wahrscheinlich eine stattliche Erscheinung abgegeben hatte und in 35 Jahren als Busfahrer so kräftig durchgerüttelt wurde, dass er nun ein chronisches Rückenleiden hat. Es war aber nicht der Schmerz, der ihn vergessen ließ, dass Männer nicht weinen. Vielmehr hatte er gerade erfahren, dass die Krankenkasse die Physikotherapie, die ihm der Arzt jedes Jahr verschrieben hat und die ihm einzig Linderung verschafft, künftig nicht mehr bezahlen wird. Einsparung. 660 Euro kosten die zehn Sitzungen, das geht sich für ihn nicht aus. Nicht die Schmerzen, sondern die Demütigung hatte ihn übermannt: dass er ein Leben lang viel zu brav gearbeitet hat und sich jetzt die Behandlung selber zahlen soll - und es nicht kann. Ja, hat mir später der Orthopäde erzählt, die Krankenkasse kommt auch für jene Therapien nicht mehr auf, deren chronisch Kranke absolut bedürfen. - Man wird sich künftig hüten müssen, zu oft zum Arzt zu gehen; oder sich daran gewöhnen, dort mit ordinärem Elend behelligt zu werden.

Der Autor ist Schriftsteller und Literaturkritiker in Salzburg.

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