Baumkraft, Bäume, Wald - © Pixabay

Bekenntnisse eines Biophilen

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Unter Vordenkern konkurrieren heute zwei Fortschrittsszenarien: Die einen haben den technologisch übersteigerten Menschen im Sinn. Die anderen setzen auf Rückbesinnung und Naturverbundenheit - auch inmitten der modernen Großstädte.

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Unter Vordenkern konkurrieren heute zwei Fortschrittsszenarien: Die einen haben den technologisch übersteigerten Menschen im Sinn. Die anderen setzen auf Rückbesinnung und Naturverbundenheit - auch inmitten der modernen Großstädte.

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Ich gestehe, dass ich es schon lange tue, und zwar am liebs ten im Wald. Sofern es meine Zeit erlaubt, schnüre ich mir die Laufschuhe an und begebe mich auf eine kleine Jogging-Tour. Meist sehr gemütlich, denn nach der Arbeit geht es mir nicht mehr um Leistung, sondern um Entspannung und Stressabbau. Und das ist am besten beim gemächlichen Traben zu erreichen. In der Kleinstadt, in der ich wohne, gibt es viele nette Routen; doch immer wieder zieht es mich in die nahe gelegenen Föhrenwälder. Dort ist das Lauferlebnis am schönsten und der Erholungseffekt am größten.

Woran das liegt, ist schwer zu sagen: Sind es die weichen Laufwege, auf denen man sanft dahingleiten kann? Ist es der mediterrane Geruch der Kiefernadeln, der die Luft durchströmt? Sind es die vielen Formen der Farbe Grün, die nachweislich stressreduzierend wirkt? Ist es das Mikroklima des Waldes, der Feinstaub reduziert und die Luft verbessert? Oder ist es die Ruhe fernab des Alltags, in die man hier, abgeschirmt durch die Pflanzenwelt, eintauchen kann?

Heilsames "Waldbaden"

Alle diese Faktoren wirken wohl zusammen, und der österreichische Wissenschaftsautor Clemens G. Arvay hat dafür einen schönen Überbegriff gefunden: "Biophilia-Effekt". In seinem gleichnamigen Buch (editon a, 2015) hat er diesen Effekt vor allem über pflanzliche Duftstoffe erklärt, die in der Waldluft in hoher Konzentration zu finden sind. 2000 solcher Botenstoffe aus 900 Pflanzenfamilien hat man bereits identifiziert. Einige dieser Terpene zeigen eine positive Wirkung auf das menschliche Immunsystem. Mit den natürlichen Killerzellen regen sie genau jene weißen Blutkörperchen an, die Viren bekämpfen und die Entstehung von Krebszellen verhindern. Waldluft ist somit wie ein Heiltrunk zum Einatmen. In Japan ist das "Waldbaden" ("Shinrin-yoku") bereits eine offiziell anerkannte Methode zur Prävention und zur unterstützenden Krankheitsbehandlung.

In seinem Buch "Der Heilungscode der Natur" (Riemann, 2016) hat Arvay dieses Konzept weiter ausgearbeitet, und auch in seinem jüngstem Werk geht es um den "Biophilia-Effekt", diesmal in der Stadt. Diesen Effekt verortet der Biologe nun in einem "heilsamen Trio des Waldes" - also nicht nur in den Terpen-hältigen Duftstoffen, sondern auch in elektrisch geladenen Teilchen (Ionen) der Luft sowie in pilzartigen Bakterien (Mycobakterien), die etwa im Waldboden vorkommen. So konnte für die Ionen eine vitalisierende Wirkung nachgewiesen werden, während häufiger Kontakt mit den Bodenbakterien zu einer verbesserten Immunabwehr führen soll.

Diese plakative Beschreibung des "Biophilia-Effekts" ist angesichts der komplexen Einflussfaktoren und der noch eher bescheidenen Studienlage zwar verwegen - dass der Aufenthalt in der Natur eine erquickende Wirkung auf Körper und Geist haben kann, ist jedoch ein Befund, den die meisten Menschen aus eigener Erfahrung gut nachvollziehen können. "Wir Menschen sind geborene Natur-Freaks", behauptet Clemens G. Arvay. Das kann ich nur bestätigen: Von klein auf hatte ich eine biophile Ader. Als Stadtkind war es für mich jedes Mal ein großes Erlebnis, die Wochenenden in der Bergwelt des südlichen Niederösterreich (bei den Freunden meiner Eltern) zu verbringen. Dort gab es gleichaltrige Spielkameraden und jede Menge wilde Natur. Ich erinnere mich, auf Felsen und Bäume zu klettern und in einem eiskalten Bach zu waten, dessen Wasser man trinken hätte können. Diese frühen Naturerfahrungen haben mich sehr stark geprägt.

Der Begriff der "Biophilie" stammt ursprünglich von Erich Fromm. Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker sah darin "die leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen" und den "Wunsch, das Wachstum zu fördern, ob es sich nun um einen Menschen, eine Pflanze, eine Idee oder eine soziale Gruppe handelt".

Theoretiker der Biophilie

Fromm beschrieb freilich auch das Gegenteil: die Nekrophilie, die "Liebe zum Toten", die als Folge eines gehemmten Wachstums und einer seelischen Verkrüppelung auftreten kann. In seinem Aufsatz "Die Seele des Menschen" (1964) betonte Fromm, dass unsere biophile Neigung die Gesundheit fördert. Denn sie regt dazu an, immer wieder mit den heilsamen Kräften der Natur in Kontakt zu treten. Heute ließe sich dies über die Umweltpsychologie oder die Öko-Psychosomatik differenziert erklären.

Auch E. O. Wilson berief sich auf die Biophilie: Der amerikanische Biologe und große Ameisenforscher geht davon aus, dass sich im Laufe der Evolution ein Hang zu jenen Habitaten und Ökosystemen entwickelt hat, die Leben besonders gut ermöglichen. Ein Beispiel: Pflanzen deuteten für unsere Vorfahren auf die wichtigsten Ressourcen hin, die sie zum Überleben brauchten: Wasserstellen, pflanzliche Kost, jagdbare Tiere sowie auch Schutz vor Feinden und Hitze. Kein Wunder, dass in unserem Gehirn die Wahrnehmung von Pflanzen emotional mit einer grundsätzlich positiven Reaktion gekoppelt ist. Es gibt ein intuitives Wissen, dass sich Pflanzen positiv auf unsere Physiologie und Psyche auswirken. Der kürzlich verstorbene österreichische Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt sprach in diesem Zusammenhang von "Phytophilie", der Liebe zu den Pflanzen, als spezieller Ausprägung der Biophilie.

Futuristische Fantasien

Als bekennender Biophiler gebe ich zu, dass mich naturbezogene Fortschrittsvisionen sehr leicht begeistern können. Ganz im Gegenteil zu Zukunftsszenarien, in denen der technologisch übersteigerte Mensch auf dem Programm steht. Biophilie statt Transhumanismus, menschliche Entfaltung statt künstliche Leistungssteigerung: Auf smarte Kleidung, Rundum-Vernetzung, Neuroprothesen oder in den Körper eingepflanzte Chips und Sensoren kann ich gut und gern verzichten. Die Gestaltungsideen, wie sie Arvay in seinem jüngsten Buch ein bisschen prophetisch verkündet, beflügeln hingegen meine Fantasie: Dazu zählen das städtische Waldbaden, urbane Gemeinschaftsgärten, begrünte Dachflächen und Hauswände, oder auch weitläufige "Biophilia-Korridore" quer durch die Stadt - kurz eine "futuristische Kombination aus moderner städtischer Infrastruktur und wunderschöner Natur", wie sie heute in vielen Städten zumindest ansatzweise bereits erfahren werden kann.

Steht der Mensch heute vor einem neuen evolutionären Sprung, wie oft behauptet wird? Wird er durch die technologische Entwicklung zum Homo digitalis? Biophile Theoretiker zeigen sich hier skeptisch: "Wir Menschen sind ja Naturwesen und werden es für immer bleiben", so Arvay. "Wir tragen die Handschrift der Natur in jeder unserer Zellen und tief in unserer Psyche." Und auch authentische menschliche Entwicklung gleicht letztlich dem organischen Wachstum -ganz nach dem Vorbild der Pflanzen.

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