Berichte zwischen "Sündenstolz" und tragischem "Schandfrieden"

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Noch vor einem guten Jahr haben wohl nur wenige Menschen den Hype vorausgesehen, den das Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs auslösen würde. Das erstaunt nicht in den Siegerstaaten. Für diese war das Ereignis der "Große Krieg", der in Denkmälern, in Büchern und im Schulunterricht immer präsent war. Überall im öffentlichen Leben, in den Zentren der Städte, an den Universitäten und auf den Friedhöfen, von Paris über London bis Washington, von Canberra bis Ottawa, erinnern Gedenkstätten an die Siege.

Nun aber ist der Erste Weltkrieg eher unerwartet auch das große Thema in den Niederlagestaaten. Für Österreich erstaunt dies umso mehr, da sich doch nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie keine "große Erzählung" als gemeinsames Erinnern etablieren konnte. Deutschland hatte seine "schwarzen" Mythen, mit all den tragischen Konsequenzen zwei Jahrzehnte später: In den innenpolitisch missbrauchten Schlagworten: "Im Felde unbesiegt","Dolchstoß", "Schandfrieden" blieb der Krieg ein umstrittener Gedächtnisort der Weimarer Republik.

Welchen Diskurs bitte?

Aber: "der Rest ist Österreich", wie Clemenceau ausführte. Wer sollte hier welchen Diskurs aufgreifen? Große Teile der Monarchie und damit der Armee fanden sich in Siegerstaaten wieder, die Ungarn lebten (und leben) ihr eigenes Weltkriegstrauma. Österreich, belastet mit den Grenzfragen, dem Anschlussverbot, den ökonomischen Problemen, musste versuchen, einen Neuanfang zu inszenieren Das war ambivalent, der kulturelle Erbanspruch aus der alten Monarchie wurde aufrechterhalten, der politische hingegen bestritten. Daher gab es keine offizielle Erinnerung an diesen Krieg der Habsburger. Die Gedenkkultur zog sich auf die Dorffriedhöfe mit ihren Kriegerdenkmälern, die von "Heimat", nicht von der Monarchie sprechen, zurück.

Und jetzt das: Buchhandlungen voll mit Literatur zum Ersten Weltkrieg, die Salzburger Festspiele ausgerichtet am Krieg, Ausstellungen allerorten, offizielle Papiere der Ministerien und vieles mehr. Hatte durch Jahrzehnte der Monolith Auschwitz den Blick zurück so verstellt, dass auch die Zunft der ZeithistorikerInnen den ersten großen Krieg nicht wirklich in den Fokus bekam, hatte die politische und teils auch fachwissenschaftliche Kontroverse um die Jahre 1933/34 die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, so dominiert jetzt eindeutig die Forschung und das Gedenken an 1914. 80 Jahre 12. Februar oder 75 Jahre Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verblassten daneben in der Erinnerungskultur. Der "Große Krieg" ist 2014 auch bei uns mit aller Deutungsmacht angekommen.

Dafür gibt es sicher keine einfachen Erklärungsmuster. Als Historiker kann man aber den Deutungsversuchen anderer Disziplinen ein paar Erklärungsansätze hinzufügen.

Drei Deutungen

Die Implosion des Sowjetsystems und die langsame Integration "Zwischeneuropas" in die Gemeinschaft der EU vermittelte den doch wohl nur teilweise gerechtfertigten Eindruck einer besonderen Rolle Österreichs in dieser Region, als "Experte" für die konfliktreiche Gemengelage in der neuen Staatenwelt. In einer Ausblendung der zahlreichen Schwächen (und der Gewaltmethoden zur Aufrechterhaltung der Loyalität im Weltkrieg) wurde die Monarchie gleichsam zum Modell für die EU stilisiert. Das führte zu einer Habsburgernostalgie jenseits des Sisi-Kults, und erlaubte die Selbstinszenierung als Vorreiter. Damals, 1914, wurden bei uns weltpolitische Weichen gestellt. Es war die Ermordung "unseres" Thronfolgers, der die Welt in den Abgrund stürzte, während in der Zweiten Republik "Kronprinz" nur noch eine Apfelsorte war. Die Auslösung des Kriegs erweckt "Sündenstolz" (Jelinek), "dieser Stolz auf Buß und Reu", der Bedeutung zuschreibt.

Der Erste Weltkrieg ist wohl nicht zu Unrecht als erste umfassende Erfahrung mit den dunklen Seiten der Modernisierung zu lesen. Wohl kollidierte schon zuvor die Titanic mit einem Eisberg, zerbrach also an der Natur, der Krieg aber zerstörte nachhaltig Natur und Zivilisation, Umwelt und Menschen. Im Kampfgetöse, in den Querschlägern im Karst, in den Giftgasschwaden und in den Kliniken für psychisch zerstörte "Zitterer", in den Prothesenwerkstätten und über den Massengräbern erfuhr die Fortschrittsgläubigkeit ihre erste existentielle Krise. Heutige Kritiker der Fortschrittsgläubigkeit glauben die Parallelen der gesellschaftlichen Entwicklung im Zeitabstand von einem Jahrhundert zu erkennen und richten daher ihr Interesse verstärkt auf 1914.

Seit sich in der Geschichtswissenschaft kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Methoden nachhaltig ihren Platz erobert haben, gewinnt der Erste Weltkrieg als entscheidender kultureller Erfahrungsbruch verstärkt an Aufmerksamkeit. Die Kriegserwartung, ja Kriegshoffnung -für Österreich lag die letzte konkrete Kriegserfahrung damals fast ein halbes Jahrhundert zurück -das Ersehnen eines Initiationsrituals durch ein Stahlgewitter, erfasste auch fast die gesamte männliche Kulturwelt. Das Kriegspressequartier beheimatete fast alle, die bis heute für kulturelle Bedeutung stehen, Stefan Zweig, Robert Musil, Egon Schiele, nicht aber Franz Werfel oder Karl Kraus, der seinen Kollegen vorwarf, "sich dorthin zu retten, wo es am sichersten ist, nämlich in die Phrase".

Die Wissenschaft hat zur Kenntnis genommen, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs nicht ohne jene des Ersten geschrieben werden kann. Eric Hobsbawms "Dreißigjähriger Krieg" hat diese Sichtweise nachhaltig befördert. Je größer die zeitliche Distanz zu beiden Kriegen wird, desto näher rücken diese in der Perspektive zusammen, und je transnationaler Zeitgeschichte gesehen und verstanden wird, desto mehr bleibt der Zweite Weltkrieg ohne den Ersten nicht erklärbar.

Der Erste Weltkrieg hat die Hemmschwellen zur physischen und psychischen Gewaltanwendung reduziert, hat die Nationalismen in ihrer Stärke vervielfacht, hat neue Minderheitensituationen geschaffen und den europäischen Juden die transnationalen Lebensmöglichkeiten eingeengt. Er hat alte Feindbilder verstärkt und neue geschaffen, hat Revanchegelüste geweckt und radikalen Denkweisen Raum gegeben. Daher erscheinen die heutigen Bedeutungszuschreibungen und die derzeitige Aufmerksamkeit, die dieser Krieg erfährt, durchaus angemessen.

Der Autor ist Professor für Zeitgeschichte an der Uni Graz

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