Bestehendes für die Zukunft denken

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Das 20. Industriebauseminar an der Technischen Universität Wien (18.-20. Mai) stand ganz im Zeichen von Nachhaltigkeit. Unter dem Titel "refurbished future“ wurde aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Zukunftsfähigkeit alter Bausubstanz beleuchtet.

Architekt Stefan Behnisch kam nicht zum Eröffnungsvortrag. Dafür schickte er seinen Partner Martin Haas. Baujahr 1967, zehn Jahre jünger als Behnisch und also eine zukunftsgewandtere Alternative, wie Gastgeber Professor Christoph Achammer scherzhaft meinte. Der Vorstand des Instituts für Interdisziplinäres Bauprozessmanagement, Interdisziplinäre Bauplanung und Industriebau an der TU Wien hatte das 20. Industriebauseminar unter das Motto "refurbished future“ gestellt. Denn die Zukunft gehört der Um-, Neunutzung und Adaption bestehender Bauten. Drei Tage gingen Vortragende aus verschiedenen Disziplinen dieser Frage nach. "Vierzig Prozent der Energie eines Gebäudes stecken in der Herstellung. Meist macht es Sinn, bestehende Architektur zu ergänzen und neu zu aktivieren“, so Haas. Ihr Stuttgarter Büro liegt in einem thermisch und energetisch sanierten früheren Industriebau. "Wir haben quasi im Selbstversuch getestet, wie man mit überkommener Substanz umgehen kann. Irgendwann wird Nachhaltigkeit zum Lebensstil.“ Das beschränkt sich bei Weitem nicht auf Energiekennzahlen. Auch der emotionale und identitätsstiftende Gehalt von Architektur ist nie zu unterschätzen.

Interdisziplinäre Untersuchungen

Doch Bausubstanz ist nicht gleich Bausubstanz. Sind alte Industriehallen als Lofts sehr beliebt und herrscht über die Bewahrungswürdigkeit historischer Häuser weitgehend Konsens, tut man sich mit der jüngeren Vergangenheit schon schwerer. Das Institut für Kunst und Architektur der Akademie der bildenden Künste in Wien nahm sich ihrer an. Lisa Schmidt-Colinet stellte das Forschungsprojekt "Big! Bad? Modern:“ vor, in dessen Rahmen alle fünf Plattformen des Instituts exemplarische Projekte untersuchten. An die fünfzig Studierende beteiligten sich. "Es ist wichtig, ein anderes Bewusstsein für die Großprojekte der Nachkriegsmoderne mit ihrer rationellen Planung, Effizienz und Universalität zu entwickeln“, so Schmidt-Colinet. Interdisziplinär unter die Lupe genommen wurden das skandalumwitterte AKH, das als Resultat eines gewonnenen Wettbewerbs aus dem Jahr 1961 nach mehreren Teilinbetriebnahmen 1994 endlich eröffnet wurde. Außerdem die WU Wien (Kurt Hlaweniczka & Partner, 1976-82), der Wohnpark Alt-Erlaa (Glück-Hlawenicka-Requat-Reinthaler, 1972-85) mit seinen über 3100 Wohnungen und der kolportierten größten Zufriedenheit, sowie das ORF-Zentrum am Küniglberg (Roland Rainer, 1968-75). All diese Bauten sind aus der Stadtsilhouette nicht wegzudenken. Die Studierenden erhoben die ökologische Bilanz der Materialien, Haustechnik, Fassadenaufbauten, diverse Bestandsphasen und vieles mehr. Ihre Recherchen förderten gravierende Mängel und brachliegende Potenziale zutage.

An die apokalyptischen Grenzen der Technologiegläubigkeit entführte Paul Dobraszczyk. Er war in der radioaktiv kontaminierten Geisterstadt Prypjat. Dort haben die Zeit, Witterung und Natur begonnen, leerstehende Häuser zu überformen. Rissiger Putz, rostige Kleiderständer, aufgeplatzte Fußböden und zurückgelassene Puppen erzeugen eine Atmosphäre, wie man sie sonst nur aus Horrorfilmen oder Computerspielen kennt.

Wie viel Schönheit, Poesie und Ermächtigung zur Zukunft auch kleine Eingriffe bewirken können, zeigte Beny Meier. Unter dem Titel "Vom Gewöhnlichen, Kleinen und Einfachen“ stellte er drei Mini-Interventionen in alte Strukturen vor, mit denen das Kärntner Büro Gasparin & Meier Architekten die Lebensqualität in Bauernhöfen steigern konnte. "Wesentlich beim Umbau ist die Auseinandersetzung mit dem Bestand. Die Wahl der Entwurfsstrategie liegt allein beim Planenden, das Potenzial an Anknüpfungspunkten ist unendlich“, so Meier. "Wichtig ist, das richtige Maß zu finden.“

Kleine Maßnahmen, große Auswirkungen

Gasparin & Meier haben es gefunden: Sie erweiterten eine Molkerei um einen kleinen, transparenten Laden, der sich trichterförmig vor das Haus stülpt. Ein Schaufenster nach innen und außen, Eingang mit Windfang und Geschäftserweiterung gleichermaßen. In einem anderen Hof, wo mehrere Generationen und Gäste unter einem Dach wohnen, stellte ein Zubau mit Treppe den Familienfrieden wieder her. Die dritte Intervention war der Zubau einer kleinen Holzbox mit Humusklo, Wanne, Waschbecken und Aussicht auf ein ehrwürdiges Haus nahe Spittal/Drau. Eine acht Meter lange Brücke verbindet es mit dem drei mal drei Meter großen Zubau. Sauna gibt es auch, der Komfortgewinn ist enorm: nie wieder Plumpsklo im Freien. Meier: "Kleine Maßnahmen können große Auswirkungen auf den Alltag haben. Es ist nun ein Genuss, hier zu leben.“

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