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Erfahrung einer Israel-Reise - vor vielen Jahren: Ein früher Morgen am Meer. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, aber die Nebel werden lichter. Kein Zweifel: Dort am Horizont, genau dort, wird sie majestätisch aus dem Wasser steigen. Nur wenige Augenblicke noch, dann ist sie da. Aber seltsam: Das Wunder geschieht nicht dort, wo wir es erwarten, sondern ein Stückchen anderswo.
Erfahrung einer Israel-Reise - jetzt: Ich sitze an diesem Montagnachmittag im "Zeit im Bild"-Studio des ORF, um den Höhepunkt des Papstbesuchs in Israel live zu kommentieren: die Rede in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Eine nie wiederkehrende Chance
Was war da nicht alles geschehen, um dieser Stunde ihre enorme Bedeutung zu geben: geschichtlich, religiös, politisch - und vor allem menschlich. Es ist eine nie wiederkehrende Chance: Ein deutscher Papst, der die NS-Zeit noch selbst erlebt hat, steht vor dem jüdischen Volk.
Gebannt warte ich auf die Rede - im Wissen: Benedikt hat es schwer, sehr schwer. Da ist die berührende Erinnerung an Johannes Paul II. am selben Ort. Da ist die Not, dem Unbeschreibbaren der Shoah immer neue Worte zu verleihen. Da ist die Vermutung, dass jedes Sprechen darüber letztlich unter den Erwartungen bleibt. Da ist die Serie jüngster Pannen, die der Papst vergessen machen sollte. Und da ist die Sorge des Theologen Ratzinger: Wie sehr darf er das große Gemeinsame von Juden und Christen betonen, ohne am Fundament des eigenen Glaubens zu rütteln?
Jedes Wort wiegt jetzt doppelt. Mehr aber noch jeder Tonfall, jede Geste.
Und dann die Rede: Leise, fast monoton trägt sie der Papst vor - ohne erkennbare Zeichen der Berührtheit. "Als lese er den Text eines anderen - oder, beklemmender noch, als wisse er nicht, was er da liest", steht anderntags in den Medien. Im ORF-Studio lausche ich ihm mit wachsender Verzweiflung - bis zuletzt hoffend, dass noch ein großes, bleibendes Wort kommt. "Sprungbereite Feindseligkeit" hatte Benedikt der Öffentlichkeit zuletzt vorgeworfen. Jetzt herrscht "sprungbereite Gutwilligkeit". Alle hoffen auf eine "historische Rede": Seine jüdischen Gastgeber. Die Medien. Auch ich im TV-Studio.
Aber da kommt nichts: Kein berührender Satz, kein starker Moment. Kein Funke springt über. Was bleibt, ist Enttäuschung - und die Pein, dies auch sagen zu müssen, öffentlich. Der Wahrheit zuliebe.
Die zornige Anklage des Imam
Zwei Stunden später geschieht Merkwürdiges: Bei der interreligiösen Begegnung des Papstes ergreift ein Imam das Mikrofon und hält eine Brandrede gegen Israel: Die Juden haben uns vertrieben, uns Jerusalem weggenommen, in Gaza unsere Frauen und Kinder getötet. Tausend Gäste halten mit Benedikt den Atem an. Die Sicherheitsleute sind sprungbereit. Aber niemand zerrt ihn weg, als er seine Wut hinausschreit, zornig - aber bewegend. Warum er ungestört bleibt? Aus Respekt Israels vor der Meinungsfreiheit? Aus Ehrfurcht vor dem Papst? Aus Angst vor den Medien? Neue, alte Erfahrung einer Israel-Reise: Bewegendes, Erregendes geschieht oft nicht dort, wo wir es erwarten. Sondern ein Stückchen anderswo.
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