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ULRIKE SCHMITZERS ROMAN ÜBER EINE ASTRONAUTIN UND DIE ALLMACHT DES SYSTEMS.

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ULRIKE SCHMITZERS ROMAN ÜBER EINE ASTRONAUTIN UND DIE ALLMACHT DES SYSTEMS.

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Eigentlich ist Kira Molekularbiologin, sie forscht an der Universität über Algen. Genau deshalb ist sie prädestiniert, um an der ersten Mars-Mission teilzunehmen. Denn Algen werden dafür überlebensnotwendig sein. Also umwirbt man Kira, psychologisch geschickt, so lange, bis sie selbst den dringenden Wunsch verspürt, Astronautin zu werden. Seit Jahren trainiert Kira nun für ihre erste Weltraummission, den Flug zum Mars. Immer wieder wird sie getestet, nimmt sie an Versuchsreihen teil. Wann ihre Mission stattfinden wird, weiß sie allerdings nicht. Ganz geheuer sind ihr die Tests auch nicht, die man an ihr durchführt, die man ihr aber kaum erklärt. Kira wird zur bloßen Befehlsempfängerin, das "System" zu durchschauen, das hinter diesem Programm steht, wird unmöglich.

Was Kira, als sie ihre Unterschrift unter den Vertrag setzte, auch nicht wusste, war, wie isoliert sie als astronautisches Versuchskaninchen sein würde. Sie darf niemandem von dem Programm erzählen und im Weltraumzentrum hat sie zwar pausenlos mit Weltraumarchitekten, einem Heer an Psychologen und ihrem eigenen Betreuer zu tun, aber keinen Kontakt zu Kollegen. Die Isolation ist Teil des Programms. Mehr noch als unter ihrer Unwissenheit, warum sie was wann zu tun hat, leidet Kira, die auch "draußen" in der Welt weder Freunde noch Angehörige hat, unter dieser Einsamkeit.

Als sie eines Tages während einer Versuchsreihe auf einer Liste zufällig einen Namen entziffern kann, ist ihre Freude daher groß. Sie macht sich auf die Suche nach der Person, hofft, mit ihr über das Programm reden zu können. Sie staunt nicht schlecht, als sie ihrem eigenen Spiegelbild gegenübersteht: Kira hat ihre Zwillingsschwester Zoe gefunden. Über diesen ungeheuerlichen Zufall überwiegen zunächst die Erleichterung und die Freude, endlich nicht mehr allein zu sein. Gemeinsam mit Zoe versucht sie ihrer beider Geschichte zu rekonstruieren. Dann wird Zoe plötzlich schwanger und fliegt aus dem Programm. Und Kira beginnt immer stärker zu zweifeln, ob die Dinge, die passieren, wirklich zufällig geschehen oder ob nicht doch irgendjemand hinter den Kulissen heimlich die Fäden zieht, und zwar schon seit vielen Jahren

Mit Leib und Seele Astronautin

Vordergründig geht es in Ulrike Schmitzers neuem Roman "Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt" um die Raumfahrt: Auch wenn Kira quasi zu ihrem Astronautinnenglück durch geschickte psychologische Taktiken überredet worden ist, so ist sie doch mit Leib und Seele Astronautin. Sie führt sogar ein Notizbuch, in dem sie "Astronautenfehler" sammelt, aufschreibt, welche "Todsünden" Astronauten vor ihr begangen haben, welche Unfälle und Katastrophen passiert sind und weshalb. Diese Notizen unterbrechen den eigentlichen Erzählfluss immer wieder und sind vollständig in einem eigenen Anhang am Ende des Romans als "Kiras Astronautenfehlerlexikon" abgedruckt. Tatsächlich hat Schmitzer, seit Jahren auch Ö1-Wissenschaftsredakteurin, hier einige sehr interessante Fakten über die Geschichte der Raumfahrt zusammengetragen. So erfährt man etwa, dass Juri Gagarin nicht nur der erste Mensch im Weltraum war, sondern beinahe auch der erste Mensch gewesen wäre, der bei einer Weltraummission starb. Sein enger Freund Wladimir Komarow bewahrte ihn davor, weil er zustimmte, die Sojus 1 zu fliegen, obwohl im Vorfeld 200 Technikprobleme protokolliert worden waren. Hätte Komarow verweigert, hätte Gagarin als sein Ersatzmann einspringen müssen. Beide Kosmonauten wussten, dass der Flug nicht gut gehen konnte, doch abgesagt wurde die Mission nicht. Komarow stürzte beim Landeanflug tatsächlich ungebremst auf die Erde und starb als erster Mensch bei einer Weltraummission.

Rücksichtslos gegenüber dem Einzelnen

Was solche Anekdoten auch zeigen, ist, wie brutal, wie gefährlich, wie rücksichtslos die Weltraumfahrt gegenüber dem Einzelnen, dem Astronauten, der Befehlen von oben ausgeliefert ist, sein kann. Und eben darum, um die Ausgeliefertheit des Einzelnen gegenüber einem System, geht es Schmitzer hintergründig in ihrem Roman. Es mag nun nicht unbedingt auf der Hand liegen, dass man derartige allgemeine Systemkritik ausgerechnet anhand eines so speziellen Systems wie dem der Raumfahrt darstellt. Aber natürlich zeigt sich in diesem Milieu, das von Extremen beherrscht wird und von allen Beteiligten das Äußerste verlangt, überdeutlich, worin die Ausgeliefertheit des Ichs gegenüber einem übermächtigen System besteht: Als Einzelner wird man über weite Strecken zum reinen Befehlsausführer degradiert, kann diese systemische Befehls-Fremdsteuerung, die fast permanent geschieht, dabei aber gar nicht richtig durchschauen, weil es das System prächtig versteht, durch allerlei Psychologie den Einzelnen so zu manipulieren, dass er glaubt, er möchte tun, was das System möchte, dass er tut. Das gesamte System der Werbung etwa basiert in der westlichen Gesellschaft auf dieser Tatsache.

Bis zum Schluss gelingt es Kira deshalb auch nicht, das System, in dem sie sich seit Jahren bewegt, wirklich zu durchschauen. In einem - auch für den Leser - völlig undurchsichtigen Knäuel an zufällig wirkenden, jedoch vom System höchstwahrscheinlich gesteuerten Begebenheiten und echten, ungesteuerten Zufällen wird Kira so zu einem Spielball des Systems und ist am Ende tatsächlich Richtung Mars unterwegs, obwohl man ihr doch eigentlich gesagt hatte, sie nehme lediglich an einer Isolationsstudie mit sechs anderen Astronauten teil ...

Dieser Sub-Text, die hochinteressante, brisante Auseinandersetzung über die Allmacht eines unsichtbaren, perfekt getarnten, allmächtigen Systems gegenüber dem Einzelnen, ist zwar da, aber richtig deutlich wird er im Roman nicht. Was dominiert, ist eine etwas bizarr konstruierte, dafür recht spannend zu lesende Story voller faszinierender Details über die Raumfahrt. Aber darum dürfte es Schmitzer auch hauptsächlich gegangen sein.

Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt

Roman von Ulrike Schmitzer

Edition Atelier 2014 160 S., geb., € 18,95

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