Bilanzen der arabischen Revolution

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Während alle Welt nach Kiew blickt, geraten die Entwicklungen der Revolutionen von Tunesien bis Ägypten aus dem Blickfeld. Dabei gäbe es einiges daraus zu lernen.

Revolutionen sind Prozesse, keine Ereignisse. Das zeigt sich in den Ländern, wo vor drei Jahren tiefgreifende Umbrüche begannen, die in Tunesien, Ägypten und Libyen auch langjährige Diktaturen hinwegfegten. Wie lange der Bürgerkrieg in Syrien noch Menschenleben, Wohnhäuser und Kulturstätten vernichten wird, ist ebenso wenig vorauszusagen wie die Entwicklung der marokkanischen Monarchie zu einem demokratischeren Staatswesen.

Blut fließt nicht nur in Syrien. Auch in Ägypten holen sich jene blutige Köpfe, die für die Wiedereinsetzung des von den Militärs weggeputschten Präsidenten Mohammed Mursi oder für die Einführung einer liberalen Demokratie demonstrieren. In Tunesien wurden schon mehrere Oppositionelle Opfer politisch motivierter Mordanschläge. Und doch sind Fortschritte feststellbar.

Tunesiens Weg in die Moderne

Die Ende Jänner in Tunesien verabschiedete Verfassung gilt allgemein als das modernste Grundgesetz in der arabischen Welt. Tunesien leidet nicht an einer übermächtigen Armee, die mit der Machtergreifung liebäugelt. Und das Land hat eine starke laizistische Tradition, in der auch die Rechte der Frauen ihren Platz fanden und finden. Die Verfassung ist ein Kompromiss zwischen der islamistischen Ennahda und den säkularen Kräften. Sie anerkennt die Gleichberechtigung der Frau, da sich islamistische Abgeordnete mit ihrer Ansicht, Mann und Frau "ergänzten einander“ nicht durchsetzen konnten. Allerdings erst, als die Frauenbewegung in mehreren Demonstrationen beeindruckende Stärke gezeigt hatte. Den Bürgern wird Gewissensfreiheit zugestanden, obwohl sich der Staat zum Wächter über die Religion erklärt. "Ungläubige“ dürfen nicht beschimpft oder diskriminiert werden. Die Justiz ist unabhängig. Die Macht teilen sich ein gewählter Präsident und ein Premierminister, ähnlich wie in Portugal.

Politische Morde

Dass aber auch Tunesien noch nicht auf einen pluralistischen Staat mit funktionierenden Institutionen zusteuert, beweisen die Morde an zwei prominenten linken Oppositionspolitikern im vergangenen Jahr. Man vermutet, dass radikale islamistische Terrorzellen dahinterstecken. Lina Ben Mhenni, die als "Tunisian Girl“ den bekanntesten Blog des Landes betreibt, tut aus Angst vor islamistischen Anschlägen keinen Schritt mehr ohne Leibwächter. Denn die Frau, die für viele eine wichtige Quelle über die Aufstände vor drei Jahren war, berichtet jetzt von der Verfolgung Intellektueller, von Gerichtsverfahren gegen Künstler und Journalisten. Demonstrationen meidet sie aus Sicherheitsgründen.

Ägyptens Präsidentenputsch

Auch Ägypten hat eine laizistische Tradition, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung die Regeln des Islam befolgt. So war es auch nicht überraschend, dass bei den ersten freien Wahlen die 60 Jahre lang verfolgten Muslimbrüder eine klare Mehrheit einfuhren, und die radikaleren Salafisten besser abschnitten als jene rebellischen Kräfte, die monatelang den Tahrir-Platz in Kairo besetzt hatten. Ähnlich wie in Tunesien wurde auch in Ägypten der Polizeiapparat, der während der Diktatur jede Opposition im Keim erstickt hatte, nicht gesäubert. Die Armee hat nach dem kurzen Zwischenspiel der Muslimbrüder wieder die Kontrolle über den Staatsapparat und betrachtet sich als legitimiert, den Übergang zur echten Demokratie zu steuern. Der Sturz des Präsidenten Mohammed Mursi hat in Ägypten und den verbündeten Staaten eine Debatte über das Wesen der Demokratie in Gang gebracht. Genügt es demokratisch gewählt zu sein oder muss ein Demokrat auch die Minderheitenrechte schützen, eine Opposition akzeptieren und bereit sein, die Macht wieder abzugeben, wenn sich das Volk anders entscheidet? Weder Mursi noch die Militärs vermochten da zu überzeugen. Was für die Masse der Wählerschaft aber noch schwerer wiegen dürfte: die Muslimbrüder waren nicht imstande, die ökonomischen Erwartungen einer hungrigen Bevölkerung zu erfüllen.

Libyen: Herrschaft der Milizen

Von einer Verfassung, die einem Interessenausgleich der ethnischen und religiösen Gruppen entspringt, ist Libyen fast zweieinhalb Jahre nach dem blutigen Ende der Gaddafi-Diktatur noch weit entfernt. Die eben gewählte Verfassungskommission genießt nur begrenzte Legitimität. Denn das Sagen haben die Milizen, die die prall gefüllten Arsenale Gaddafis geplündert und sich bis an die Zähne bewaffnet haben. Die Bestände reichen auch für einen schwunghaften Waffenhandel, der die Konflikte in Syrien, Mali und der zentralafrikanischen Republik anheizt. Im Westen haben sich mehrere den Muslimbrüdern nahestehende bewaffnete Gruppen zum "Schild Libyens“ zusammengeschlossen. Anders als diese sind die Beduinenmilizen gegen eine islamistische Herrschaft. Die Berbermiliz will die Aufnahme von Minderheitenrechten in die Verfassung erzwingen und kann durch ihre Kontrolle über die Gas-Pipeline nach Italien auch ökonomischen Druck ausüben. In der Region Kyrenaika hat die lokale Miliz bereits eine autonome Regierung ausgerufen. In der Stadt Aschdabija hat sie eine eigene Erdölfirma gegründet, die den Export nach Europa abwickelt. Am 4. Dezember wurde die Scharia als einzige Quelle der Gesetzgebung ausgerufen, was der 300.000 Menschen starken christlich koptischen Minderheit Sorgen bereitet. Angesichts der Kräfteverhältnisse in der Verfassunggebenden Versammlung wäre alles andere als die Festschreibung des islamischen Rechts eine Überraschung.

War es in Tunesien die Selbstverbrennung des Obsthändlers Mohamed Bouazizi in der Stadt Sidi Bouzid, der die Aufstände auslöste, so brachte in Marokko der Selbstmord eines 16jährigen Mädchens eine kleine Revolution. Amina el-Filali hatte vor zwei Jahren Rattengift geschluckt, als sie gezwungen werden sollte, ihren Peiniger zu heiraten. Artikel 475 des Strafgesetzbuches garantierte Vergewaltigern Straffreiheit, wenn sie ihr Opfer ehelichen. Der Fall brachte nicht nur die marokkanische Frauenbewegung auf die Barrikaden, sondern löste auch bei den Islamisten im Parlament ein Umdenken aus. Ende Jänner wurde der Artikel einstimmig gekippt.

Marokkos juristische Wende

Ein Gesetzesentwurf, der Vergewaltigung mit 25 Jahren Haft bedroht und auch Gewalt in der Ehe unter Strafe stellt, wird heftig diskutiert. In Marokko ist sexuelle Gewalt gegen Frauen ein Alltagsphänomen. Daran hat auch die Verfassung von 2011 nichts geändert, die erstmals die Gleichheit der Geschlechter verankert. Die Verfassung wurde von König Mohammed VI. in Auftrag gegeben, als im Februar 2011 erste Demonstrationen Reformen einforderten.

Die Ende 2011 vom Parlament abgesegnete Verfassung beschneidet die Rechte des Monarchen und führt die Unabhängigkeit der Justiz ein. Gesetzgebung, Rechtsprechung und gesellschaftliche Veränderungen halten aber nicht Schritt mit den von oben verordneten Reformen. Letztes Jahr wurden drei Teenager wegen eines auf Facebook geposteten Fotos vor Gericht gestellt. Es zeigt ein junges Paar beim Kuss auf einer Straße in der im Nordosten gelegenen Stadt Nador. Die 14jährige Schülerin und ihr 15jähriger Freund wurden von einer islamistischen Gruppe angezeigt und wegen "öffentlicher Schamlosigkeit“ drei Tage eingesperrt. Der Richter ließ es allerdings bei einer Ermahnung bewenden und sprach das Trio frei. Dennoch ist einem Blogger recht zu geben, der seinem Frust Luft machte: "In diesem Land darf ich ungestraft meine Frau schlagen. Aber in der Öffentlichkeit küssen darf ich sie nicht“.

Lesen Sie auf der nächsten Seite zu diesem Thema das Interview mit dem Menschenrechtsexperten Manfred Nowak

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