Bilder und Bauten

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Architekturgeschichte wird nicht zuletzt in Fotografien erzählt und dokumentiert. Zwei Bildbände zeigen die faszinierende Breite österreichischer Architektur und Architekturfotografie.

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Architekturgeschichte wird nicht zuletzt in Fotografien erzählt und dokumentiert. Zwei Bildbände zeigen die faszinierende Breite österreichischer Architektur und Architekturfotografie.

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Vor über einem halben Jahrhundert, 1961, begann der junge österreichische Architekt Friedrich Achleitner kreuz und quer durch Österreich zu reisen. Mit dabei hatte er einen Notizblock und meist auch eine Kamera. Sein Ziel waren Bauwerke, alte wie neue. Er vermaß, beschrieb und analysierte sie. Und er hielt sie in fotografischen Bildern fest.

Seine Beobachtungen veröffentlichte er Woche für Woche in der Zeitung. Seine Texte markieren den Beginn einer systematischen Architekturkritik in Österreich. Zuerst erschienen Achleitners Architekturglossen in der Abendzeitung und von 1962 bis 1972 in der Tageszeitung Die Presse. Sein Tonfall war keineswegs sanft und versöhnlich. Vielmehr mischte er sich ein, urteilte und verurteilte. Er kritisierte, aber nicht um der reinen Polemik willen, sondern, weil er eine klare kulturelle und architektonische Haltung vertrat. In einer Zeit, da im Zuge des Wirtschaftswachstums hemmungslos und oft planlos gebaut wurde, prangerte er auch kleine und große "Bausünden" an. Er schrieb an gegen die bedenkenlose Verhüttelung des Landes mit gesichtsloser Architektur. Und er trat gegen die verbreitete Unkultur des Niederreißens alter qualitätsvoller Bausubstanz im Interesse des Profits auf.

Zum Standardwerk

Achleitners bissige Glossen waren in der schnelllebigen Zeitungswelt bald vergessen. Und so ging er ab 1965 daran, seine Architekturausflüge auch dazu zu nutzen, Material für ein Buchprojekt zusammenzutragen, das heute als Klassiker der österreichischen Architekturgeschichte gilt. Es trägt den Titel "Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert". Fünf Jahrzehnte lang, bis 2010, arbeitete Achleitner an diesem Mammutprojekt, das inzwischen auf vier voluminöse Bände (und mehrere Teilbände) angewachsen ist. Den letzten noch ausständigen Band über Niederösterreich wird Achleitner, der heuer 86 Jahre alt geworden ist, nicht mehr selbst schreiben. Bereits 1999 übergab Achleitner sein gewaltiges Archiv zur österreichischen Architektur an das Architektur Zentrum Wien (AzW): Die Sammlung umfasst über 22.000 Karteikarten zu einzelnen Bauobjekten, über 66.000 Fotonegative, knapp 38.000 Dias und zehntausende von Abzügen, dazu Pläne, Bücher, Kataloge, Broschüren, Zeitschriften.

Jede österreichische Architekturgeschichte baut zwangsläufig auf dieser langjährigen flächendeckenden Forschungsarbeit Achleitners auf. Das Wiener Architekturzentrum (AzW) gestaltete auf Basis Achleitners und weiterer Recherchen seine Dauerausstellung. Parallel dazu wurde vor zehn Jahren ein umfassender, reich bebilderter Katalog zur österreichischen Architektur des 20. Jahrhunderts erarbeitet, der schnell zum Standardwerk avancierte, aber seit langem vergriffen ist. Nun ist unter dem Titel "Architektur in Österreich im 20. und 21. Jahrhundert" eine aktualisierte und erweiterte Ausgabe dieses Publikation erschienen. In klugen Texten und zahlreichen Bildern - viele davon stammen von Achleitner - gibt sie einen umfassenden Überblick über wichtige Strömungen, Bauwerke und Protagonisten der österreichischen Architektur im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert. Die vorgestellten Bauwerke werden stets im gesellschaftlichen und politischen Kontext der Zeit verortet. Architekturgeschichte wird hier eng mit der Gesellschaftsgeschichte verzahnt. Nicht wenige der vorgestellten Bauten sind inzwischen abgerissen worden. Umso wichtiger ist die zeitgenössische fotografische Dokumentation. Wer beispielsweise auf der Suche nach den wenigen realisierten Bauten österreichischer Bauhausschüler ist, wird fast nur in Bildern fündig, denn von ihren Arbeiten ist nur wenig erhalten. Anfang der 1930er-Jahre etwa bauten die Bauhausarchitekten Friedl Dicker und Franz Singer im Wiener Goethe-Hof einen Kindergarten im Geist der Montessori-Pädagogik und im Bauhaus-Stil. Er wurde 1938, im Jahr der NS-Machtübernahme, zerstört.

Wegweisende Bauten

Wer sich heute, wie einst Achleitner, mit Hilfe dieser Publikation auf die Suche nach wegweisenden Bauten des letzten Jahrhunderts machen will, muss mobil sein. Denn viele Architekturbeispiele finden sich weitab der städtischen Zentren. Vorgestellt werden öffentliche Repräsentationsbauten ebenso wie private Wohnhäuser, Beispiele aus dem öffentlichen Wohnbau, aber auch Straßenbauten, Kirchen, Schwimmbäder, Schutzhütten und Seilbahnbauten. Sogar die während des Zweiten Weltkriegs errichteten Wiener Flaktürme werden im ideologischen Kontext ihrer Zeit als unzerstörbare martialische Architektur-Landmark beschrieben.

Friedrich Achleitner hatte im Laufe seiner Recherchen weit mehr Fotos gemacht, als Pläne gezeichnet. Er erkannte, dass Architektur auch in Bildern erscheinen muss, wenn sie von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden will. Eine Reise durch die österreichische Architekturgeschichte ist daher stets auch eine Reise in Bildern. Alle großen österreichischen Architekturfotografen des 20. Jahrhunderts haben im Band "Architektur in Österreich im 20. und 21. Jahrhundert" ihre Spuren hinterlassen: etwa Martin Gerlach, Julius Scherb, Hans Madensky oder Ernst Hartmann. Das Metier der Architekturfotografie war bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus eine männliche Domäne, in die nur wenige Frauen, etwa Lucca Chmel, eindrangen. Das hat sich in den letzten zwanzig Jahren geändert. Inzwischen haben, das zeigt der ebenfalls neu erschienene Band "Vom Nutzen der Architekturfotografie", zahlreiche Fotografinnen großartige Blicke auf die Architektur beigesteuert -auch in Österreich .Der Band dokumentiert die faszinierende Breite fotografischer Ansätze in der österreichischen Architekturfotografie der letzten Jahre.

Eigenständiger Blick

Es fällt auf: Die Fotografinnen und Fotografen treten nun nicht mehr als demütige Zuarbeiter ihrer Auftraggeber auf. Sie haben sich vielmehr einen eigenständigen, selbstbewussten Blick angeeignet. Als Pionierin dieser neuen Richtung der Architekturfotografie gilt Margherita Spiluttini, die um 1980 damit begann, Architektur zu fotografieren. Ihr herausragendes und international anerkanntes fotografisches Archiv, das aus über 100.000 Fotos besteht, wurde 2015 vom Architektur Zentrum Wien übernommen.

Wenn wir die zeitgenössische österreichische Architekturfotografie überblicken, zeigt sich rasch, dass das isolierte Bauwerk, inszeniert im schönen Licht, nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Fotografinnen und Fotografen wie Gisela Erlacher, Hertha Hurnaus, Lukas Schaller, Bruno Klomfar, Pez Hejduk, Stefan Oláh und Paul Ott lassen in ihren Bildern ihren Blick oft weit über die Bauwerke hinaus schweifen. Sie lichten auch ab, was in ihren Augen ebenfalls zur Architektur gehört: den städtischen Umraum, Fahrzeuge, Straßen, Menschen, ephemere Bauten, Brachlandschaften und Ödnis. Häufig tritt das repräsentative Einzelfoto zurück, um Platz für Fotoessays , Bildgeschichten und Serien zu machen. Der Begriff der Architektur wurde in den letzten Jahren zügig erweitert. Das zeigt etwa Stefan Oláh in seinen faszinierenden Bildbänden "Sechsundzwanzig Wiener Tankstellen" oder "Fünfundneunzig Wiener Würstelstände".

Der Autor ist Fotohistoriker, Publizist und Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte"

Architektur in Österreich im 20. und 21. Jahrhundert

Park Books 2016

437 S., kart., zahlr. Abb., € 69,90

Vom Nutzen der Architekturfotografie

Positionen zur Beziehung von Bild und Architektur. Hg. von Angelika Fitz, Gabriele Lenz, igarchitekturfotografie. Birkhäuser 2015. 286 S., geb., zahlr. Abb., € 50,40

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