Blick auf komplexe Zusammenhänge

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An Gedenktagen anlässlich eines Kriegsausbruchs oder Kriegsendes werden auch unterschiedliche Gedenkweisen sichtbar. Die Wiener Historikerin Brigitte Bailer im Gespräch über österreichische Kulturen der Erinnerung an die beiden Weltkriege.

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An Gedenktagen anlässlich eines Kriegsausbruchs oder Kriegsendes werden auch unterschiedliche Gedenkweisen sichtbar. Die Wiener Historikerin Brigitte Bailer im Gespräch über österreichische Kulturen der Erinnerung an die beiden Weltkriege.

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Das Frühjahr 2015 ist reich an Gedenktagen - vom Völkermord an den Armeniern bis hin zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Brigitte Bailer, ehemalige Leiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, über unterschiedliche Kulturen der Erinnerung an die beiden Weltkriege.

FURCHE: Das Jahr 2014 bescherte uns eine fast unüberschaubare Zahl an Publikationen, Veranstaltungen und Ausstellungen anlässlich des 100. Jahrestages des Kriegsausbruchs. Dem steht kein vergleichbarer "Hype" um das Kriegsende 1945 gegenüber. Wo liegen die Gründe dafür?

Brigitte Bailer: Das Kriegsende 1945 ist entgegen dem immer wieder gehörten Wunsch nach einem "Schlussstrich" unter die NS-Zeit oder deren endgültige Historisierung im Bewusstsein sowohl der Nachkommen der Täter und Mitläufer als auch der Opfer nach wie vor präsent - mit allen Ambivalenzen, Spannungen und Mythenbildungen. Heuer wurde erst das dritte Mal am Heldenplatz der 8. Mai mit einem "Fest der Freude" begangen und damit das "Totengedenken" deutschnationaler Burschenschaften an diesem Tag verunmöglicht. Hier prallten ganz unvermittelt zwei zentrale Sichtweisen auf das Jahr 1945 aufeinander: einerseits die Freude über die Befreiung, die Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer, Jüdinnen und Juden, KZ-Häftlinge, Roma und Sinti und andere Verfolgte empfanden, andererseits die Trauer über den "verlorenen" Krieg - und implizit die Niederlage des NS-Regimes. Demgegenüber kann dem Ersten Weltkrieg heute sine ira et studio gedacht werden, die mit ihm verbundenen Emotionen sind 100 Jahre danach nicht mehr tragfähig.

FURCHE: Gerhard Botz hat in der FURCHE auf das Phänomen der Massengewalt hingewiesen, das erstmals im und rund um den Ersten Weltkrieg auftritt. Im Frühjahr 2015 jährte sich nicht nur der Beginn des Völkermords an den Armeniern, sondern auch der erstmalige Einsatz von Giftgas zum 100. Mal. Sehen Sie eine Linie zwischen dieser Entgrenzung von Gewalt und den späteren Massenmorden im Zweiten Weltkrieg?

Bailer: Kriegspropaganda und damit verbundene nationalistische Ausbrüche, die letztlich in Gewaltexzessen mündeten, können nicht losgelöst von der Entwicklung der Jahrzehnte zuvor gesehen werden - das Erstarken des Nationalismus in Europa, der weithin akzeptierte, rassistisch-biologistisch argumentierende Antisemitismus haben ihre Wurzeln in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von dort laufen Kontinuitätslinien zum Nationalsozialismus, der letztlich diesen Antisemitismus in bis dahin unvorstellbare Verfolgung und Morde münden ließ. Die im Ersten Weltkrieg auftretende Massengewalt muss aber auch im Kontext der neuen technologischen Möglichkeiten gesehen werden. Wenn wir in der Geschichte zurück blicken, wurde technischer Fortschritt immer auch dazu benützt, Kriege grausamer und umfassender, im Sinne der Strategen "effizienter" zu führen.

FURCHE: Manche sehen im Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 den Beginn eines modernen Dreißigjährigen Krieges, der eben bis 1945 dauerte.

Bailer: Derartige Analogien übergehen meines Erachtens historische Rahmenbedingungen und historischen Kontext. Gehen wir davon aus, dass der Erste Weltkrieg die Wurzeln für die in Europa aufkommenden faschistischen Regime und den Nationalsozialismus legte, laufen wir Gefahr, die zuvor angesprochenen Kontinuitätslinien zurück in das 19. Jahrhundert zu übersehen. Das Ende des Ersten Weltkriegs mit dem Zerfall der großen Reiche schuf politische, ökonomische und soziale Rahmenbedingungen für den Aufstieg extremer politischer Strömungen, die im Deutschen Reich zum Nationalsozialismus führten, in anderen Ländern zu autoritären bzw. faschistischen Diktaturen. Erst der Blick auf komplexe Zusammenhänge öffnet das Tor zu einem umfassenden Verständnis historischer Abläufe.

FURCHE: 1918/1919 definierten sich (nicht nur) Österreichs Eliten "deutsch" und strebten in überwiegender Mehrheit den Anschluss an Deutschland an. 1945 distanzierte sich das offizielle Österreich von allem Deutschen. War das nur Opportunismus oder kam es tatsächlich zu einem Identitätswandel?

Bailer: Als Wilhelm Leuschner im Auftrag der Gruppe, die am 20. Juli 1944 das vergebliche Attentat auf Hitler unternahm, den späteren Vizekanzler und Bundespräsidenten Adolf Schärf 1943 in Wien aufsuchte und eine mögliche Zusammenarbeit zwischen deutschen und österreichischen Sozialdemokraten ausloten wollte, beschied ihm Schärf, die Realität des "Anschlusses" habe den Österreichern den Deutschnationalismus ausgetrieben. Damit sprach Schärf einen wesentlichen Faktor an, der die Stimmung in Teilen der Bevölkerung durchaus widerspiegelte. Im Widerstand ebenso wie im Exil vertraten vor allem kommunistische und christliche Gruppen einen ausdrücklichen Österreich-Patriotismus und traten für die neuerliche Unabhängigkeit Österreichs ein. Spätestens Ende 1943 schloss sich auch das sozialdemokratische Exil vor dem Hintergrund der Moskauer Deklaration dieser Position an. Nach 1945 setzten zahlreiche Bestrebungen ein, dieses neue Österreichbewusstsein zu festigen. Allerdings dauerte es bis in die 1970er-Jahre, bis in einer Studie weniger als zehn Prozent der Befragten meinten, Österreich sei Teil der deutschen Nation.

FURCHE: Aus zeitgeschichtlicher Sicht ist bemerkenswert, dass in der Präambel der Unabhängigkeitserklärung von April 1945 Entrechtung, Beraubung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Österreicher und anderer Minderheiten nicht thematisiert worden sind ...

Bailer: Die Verfolgung der Jüdinnen und Juden stand 1945 in keiner Weise im Vordergrund des politischen Bewusstseins, im Gegenteil - der Antisemitismus war nicht mit dem NS-Regime untergegangen, wie der britische Historiker Robert Knight schon 1988 nachgewiesen hatte und wie es -neben zahlreichen anderen Arbeiten seither - auch in den Forschungsberichten der Historikerkommission deutlich wurde. Seitens der Politik war man bemüht, die an den Jüdinnen und Juden verübten Verbrechen klein zu reden, um von vornherein allen möglichen Entschädigungsforderungen zu begegnen. Die Verantwortung für diese Verbrechen wurde im Übrigen alleine dem Deutschen Reich und "den Deutschen" angelastet.

FURCHE: Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Interesse in anderen Ländern scheint die Lust der österreichischen Geschichtswissenschaft an der Beschäftigung mit den beiden Weltkriegen eine eher begrenzte zu sein. Das betrifft sowohl große Narrative als auch große Narratorinnen und Narratoren (vgl. Heinrich August Winkler). Woran kann das liegen?

Bailer: Im Blickfeld der Untersuchungen zum Zweiten Weltkrieg standen in Österreich seit Begründung der Zeitgeschichte als eigenes universitäres Fach Fragen nach Widerstand, Verfolgung von Jüdinnen und Juden, später auch anderer Gruppen wie Roma und Sinti oder Behinderter. Die Frage nach der Verantwortung für diese Verbrechen trat dann erst zu Ende der 1980er-Jahre, befeuert von der Waldheim-Debatte, in den Vordergrund. Kriegsgeschichte blieb weitgehend den Militärhistorikern überlassen, wohl auch aus Gründen vermeintlicher Betroffenheit - als verantwortlich galt das Deutsche Reich, da ja Österreich 1939 als eigener Staat nicht mehr bestand. Als Ausnahme ist hier jedenfalls Manfried Rauchensteiners monumentales Werk zum Ersten Weltkrieg zu nennen, der Kriegsverlauf bildete sich aber auch in Forschungen zur Rolle der Deutschen Wehrmacht bei Verfolgung der Jüdinnen und Juden und Kriegsverbrechen ab, wie sie beispielsweise Walter Manoschek für den Kriegsschauplatz am Balkan vorgelegt hat.

FURCHE: Die Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch sprach kürzlich davon, dass Frauen im Umfeld des Wiener Kongresses - Stichwort Salons - eine wesentliche Kommunikationsfunktion innehatten und als Drehscheibe zwischen Politikern fungierten. Welche Funktion nahmen sie ab 1918 und 1945 ein?

Bailer: Diese Frage ist wohl auf Frauen aus dem wohlhabenden, gehobenen Bürgertum zu beschränken. Frauen aus anderen sozialen Schichten hatten hier sowohl 1918 als auch 1945 gänzlich andere, drängende existenzielle Sorgen. Die Salons einer Berta Zuckerkandl oder einer Alma Mahler-Werfel erfüllten eine wesentliche kulturelle Funktion auch in der Ersten Republik, inwieweit ihnen auch politische Verbindungsfunktion zukam, bliebe wohl im Detail anzusehen. Diese Tradition wurde mit der Vertreibung und Ermordung des jüdischen Bürgertums in der NS-Zeit nachhaltig zerstört. Nach 1945 spielten Frauen in der Politik so gut wie keine Rolle, das kulturelle Leben war erst wieder in Entstehung begriffen, wobei gerade hier die Spuren der NS-Zeit nur sehr mangelhaft beseitigt wurden, wenn wir Musiker- und Schauspielerkarrieren ansehen.

FURCHE: Welche Position könnte bzw. sollte Österreich - gerade im Rückblick auf die beiden Weltkriege und ihre Folgen - heute in Mitteleuropa, im Verhältnis zu den anderen Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches einnehmen?

Bailer: Die heutige Aufgabe lautet wohl, die europäische Integration weiter zu führen, die Auseinandersetzung mit gefährlichen nationalistischen Tendenzen in fast allen Mitgliedsstaaten der EU zu führen und einer neuerlichen europäischen Spaltung entgegenzutreten. Reminiszenzen an die Monarchie stehen für mich hier nicht im Vordergrund.

Das Gespräch führten Thomas Köhler und Christian Mertens

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