Blick in private Leben als Blick in die Welt

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Über persönliche Biografien entwickelt Milo Rau in "The Civil Wars" das Abbild einer Gesellschaft, in der in bürgerlichen Verhältnissen Aufwachsende sich militanten Gruppen anschließen. So dokumentiert sein Theater jüngste europäische Geschichte.

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Über persönliche Biografien entwickelt Milo Rau in "The Civil Wars" das Abbild einer Gesellschaft, in der in bürgerlichen Verhältnissen Aufwachsende sich militanten Gruppen anschließen. So dokumentiert sein Theater jüngste europäische Geschichte.

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Wie kaum ein anderer Theater-und Filmemacher belebt der Schweizer Regisseur Milo Rau (Jahrgang 1978) das 'politische Theater' neu. Er will angesichts des Elends, der Ungerechtigkeit und der Gewalt in der Welt etwas tun. Also setzt er sich an die Stelle anderer, indem er für sie sieht. Sein Blick gilt dabei den politischen Ereignissen der Welt, die er mit seiner Produktionsfirma, dem "International Institute of Political Murder", kurz IIPM, nach ausgedehnten Recherchen für die Bühne bearbeitet und in sogenannten Re-Enactments 'nachspielen' lässt.

Ob in "Die letzten Tage der Ceausescus", in "Moskauer Prozesse", wo es um Pussy Riot und die Freiheit der Kunst geht (was Rau ein russisches Einreiseverbot einbrachte), in "Breiviks Erklärung", einer szenischen Lesung der Verteidigungsrede des 77-fachen Mörders von Utøya, oder in "Hate Radio", in welchem er die Rolle des staatlichen Radiosenders RTLM während des Genozids in Ruanda von 1994 beleuchtet: Milo Raus Theater charakterisiert sich durch einen dezidiert dokumentarischen Zugriff. Dem Theaterrealisten Rau geht es statt um Repräsentation um die Präsentation von Tatsachen.

Bei Raus im letzten Jahr beim Zürcher Theater Spektakel uraufgeführte und heuer bei den Wiener Festwochen gezeigter Produktion "The Civil Wars" ist das nicht anders. Ausgangspunkt für den ersten Teil seiner Europa-Trilogie war eine Frage, die aktueller kaum sein könnte. Was nämlich treibt Jugendliche, die in westeuropäischen Gesellschaften geboren und aufgewachsen sind, an, sich dem Islamischen Staat anzuschließen und an den Schrecken eines Bürgerkrieges teilzunehmen, der mit ihnen nichts zu tun hat? Rau gibt auf die Frage keine eindeutige Antwort. Ihn interessiert, was das Phänomen über unsere Gesellschaft aussagt, und so dient sie seinem gut zweistündigen Theaterabend lediglich als Einstiegsfrage für eine Art Spurensuche.

Strategie des Dokumentarischen

Die Bühne zeigt zunächst eine pompöse barocke Theaterloge mit goldener Verzierung und schweren roten Samtvorhängen. Zu Musik von Bach dreht sich die Loge um 180 Grad, um auf ihrer Rückseite, der Abgeschiedenheit der Loge durchaus korrespondierend, ein bürgerliches Wohnzimmer, mit Couch, Tischchen, Stehlampe, Bücherregal mitsamt Nippesfiguren und gerahmten Familienfotos an der tapezierten Rückwand, zur Erscheinung zu bringen. In dieser Szene berichten eine Schauspielerin und drei Schauspieler aus ihrem Leben. Raus emphatischer Wille ist es, den Dingen in dieser Welt einen Zusammenhang und Bedeutung zu geben, und so stellt der Blick in die privaten Leben gleichsam den Blick in die Welt dar. Die Darsteller filmen sich während ihren monologischen Erzählungen gegenseitig. Die Porträts werden riesengroß auf die Leinwand projiziert, die über der ganzen Breite der Szene hängt. Die schwarz-weißen Aufnahmen rufen Strategien des Dokumentarischen auf. Die registrierende Kamera lässt keine Regung der Erzählenden unbemerkt, womit die Authentizität des Erzählten zusätzlich beglaubigt werden soll.

Im Zentrum der vier in flämisch oder französisch monologisch ausgebreiteten, ganz unterschiedlichen Biographien stehen vor allem die Väter. Johan Leysen hat seinen geliebten Vater früh durch einen Autounfall verloren. Der von Sara De Bosschere war ein sensibler, begabter Programmierer, bevor er angesichts der sozialen Realitäten in den Entwicklungsländern in eine tiefe Depression versank und in der Psychiatrie landete. Karim Bel Kacem, dessen Familie aus Marokko nach Frankreich kam, bezog von seinem alkoholabhängigen Vater regelmäßig Prügel, was ihn für militante muslimische Kreisen empfänglich machte. Sébastien Foucaults Vater verlor im Zuge neoliberaler Rationalisierungen seine Lebensgrundlage und wurde ebenfalls gewalttätig.

Fehlende Väter

Das Verbindende der Geschichten von den Vätern ist deren Fehlen. In dieser Leerstelle sieht Rau offenbar Ursachen für deformierte Leben, das Bedürfnis nach Zusammenhalt, Zugehörigkeit und die damit im Zusammenhang stehende Anfälligkeit für radikale Ideen, die Ursachen für neue Bürgerkriege. Es geht hier um die duale Rolle der Väter, die Lacan mit einem berühmten Wortspiel fasste: Le nom du père et le non du père (der Name des Vaters und das Nein des Vaters). Wie triftig die Diagnose von Rau nun auch immer sein mag, sein intelligentes Theater verbindet Ästhetik mit Ethik. Hinsehen auf die Welt, für uns, ist alles was er tun kann.

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