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Ein Blinder, der 400 Meter über dem Abgrund eine Seilschaft durch die Felswand zum Gipfel führt. Was nach Fantasy-Roman klingt, ist für Gipfelstürmer Andy Holzer ein normaler Tag.

Hätten seine Eltern gewusst, dass ihr Kind blind auf die Welt kommen wird, wäre er vielleichtt nie geboren worden. Heute ist der Osttiroler einer von zwei blinden Kletterern weltweit. Sechs der "Seven Summits“, der höchsten Gipfel der sieben Kontinente, hat er mit seinem Team bereits bestiegen. Im Juli gelang ihm eine Erstbesteigung an der Ostküste Grönlands. "Bevor ich Hand an den Felsen anlege, vergesse ich nicht, den Herrgott um seine Mithilfe zu bitten“, erzählt er im FURCHE-Gespräch.

Andy Holzer inspiriert die Menschen, bringt sie zum Träumen, indem er das scheinbar Unmögliche möglich macht. Botschaften wie "Du schenkst uns Mut und Hoffnung“ finden sich im Gästebuch seiner Website zu Hunderten. Der Extremsportler tut sich mit Bewunderung genauso schwer wie mit dem Hochmut jener, die ihn als "Behinderten“ bemitleiden. In seinen europaweiten Seminaren für Manager erlebt er immer wieder dasselbe Szenario: "Am Anfang spüre ich richtig, wie die Leute auf mich herabschauen. Nach einer Stunde Vortrag bin ich für sie der Übermensch, dann kommen die überschwänglichen Reaktionen. Beides ist halt so typisch menschlich. Und das meine ich damit, dass ich den Sehenden die Augen öffnen möchte“, erklärt er und lacht.

Andy Holzer weiß, wie er beinharten Managern begegnen muss, denn seine Volksschulkollegen waren noch viel hartgesottener: "Die haben mich verspottet, mir von hinten mit dem Zirkel in den Rücken gestochen und gefragt: ‚Andy, wer war’s denn? Siehst eh nichts!‘ Damals hat er gelernt: Anstatt über die Stolpersteine zu jammern, die ihm das Leben vor die Füße geworfen hat, baut er sich damit lieber seine Treppe nach oben. "Man braucht ein anderes Vorstellungsvermögen, einen anderen Zugang zur Welt, kurz gesagt: Man muss einen Vogel haben, um blind in eine 400 Meter hohe Felswand einzusteigen. Genau dieser Vogel hilft mir, jeden Tag abzuheben, mich hinaus tragen zu lassen und nicht ständig in den Fußstapfen der anderen hinterherzutraben.“

"Meine Finger sind meine Augen“

Im 300-Seelen-Dorf Amlach inmitten der Lienzer Dolomiten ist Holzer aufgewachsen. Der Dolomitenlauf führte direkt an seinem Elternhauses vorbei. So konnte er schon im zarten Kindesalter feststellen, dass Langlaufen der richtige Sport für Blinde ist: "Sobald du in der Loipe stehst, lenkt es dich wie von Geisterhand.“ Nachdem die Hausaufgaben erledigt waren, ging er bis zum Abend schlafen, um dann hinauszufahren in die dunkle Nacht. "Da habe ich meine Kilometer gespult, oft bis zu 60, um drei Uhr morgens war ich wieder daheim. Wenn ich irgendwo hingefallen und liegen geblieben wäre, wäre ich erfroren“, ist ihm heute klar. Für ihn war das Langlaufen nicht nur Sport, sondern eine Möglichkeit, seinen Horizont zu erweitern: "Ich habe alle Loipenkreuzungen auswendig gelernt. Das Schlagen der Kirchturmuhren in den verschiedenen Dörfern hat mir verraten, wo ich gerade bin, weil jede Glocke ihren eigenen Klang hat“, erklärt Holzer.

Besonders hoch rechnet der Ausnahmesportler seinen Eltern an, dass sie ihm all das erlaubten. "Ich durfte Rad fahren und mir die Kniescheiben einschlagen. Wenn sie ständig auf mich aufgepasst hätten, hätte ich nicht immer wieder kreative Lösungen finden können.“ Denn für ein Baby ist es kein Problem, ohne Augenlicht mit vier Sinnen die Welt zu entdecken. Wenn Onkel und Tante vom "Schicksalsschlag“ sprachen, musste er lachen, weil ihm nie etwas weggenommen worden war.

Holzers Onkel ist bei einer Solobesteigung in der Hochstadl-Norwand verunglückt. Als kleinen Buben hat Holzer diese Vorstellung fasziniert: "Diese Wand hat für mich ein wahnsinniges Feuer ausgestrahlt. Da oben in der Wand, da ist mein Onkel - so habe ich das empfunden - und es zieht mich richtig hinauf dort.“ So hat ihn der Bergtod des Onkels eher in die Berge gezogen als abgeschreckt.

Mit neun Jahren konnte der Abenteurer die Eltern zu einer Bergtour auf den felsigen Spitzkofel überreden - für ihn ein wegweisendes Erlebnis. "Es haben mich viele Bergsteiger enttäuscht, die mir eine gemeinsame Tour versprochen haben und mich dann doch nicht abgeholt haben, wenn ich um sechs in der Früh fertig gepackt vor der Haustür gestanden bin.“ Mit Anfang 20 fand er endlich den ersehnten Kletterpartner, der zehn Jahre sein Seil mit ihm teilen sollte. Der alte Bergfex Hans Bruckner war seiner Zeit voraus und ahnte, dass eine Seilschaft mit einem Blinden funktionieren könnte, ja sogar eine erweiterte Wahrnehmung bedeuten könnte. Vom Mont Blanc bis zu den Julischen Alpen hat das Duo jede Wand gemeinsam erkundet.

Je steiler das Gelände, umso leichter kann sich Holzer orientieren: "Dann kommt mir der Boden buchstäblich entgegen und ich habe alles innerhalb einer Reichweite von 1,20 Metern komfortabel zum Betasten vor mir.“ Bevor es losgeht, bereitet er sich akribisch auf eine neue Route vor. So trägt er beim Aufstieg bereits ein inneres Bild des Geländes mit sich. Von seinen Bergkollegen lässt er sich Details beschreiben: "Drei Meter über mir ein schräger schwarzer Riss, fünf Meter rechts eine gelbe, überhängende Wand, zwei Meter links eine graue Rinne.“ Holzers Kopf ist voller neuer Bilder, wenn er von einer Tour heimkommt.

"Ich rieche verschiedene Felsformationen, je nachdem ob sie eisenhaltig oder schwefelhaltig sind. Wenn ich ein bestimmtes Gewächs, einen abgestorbenen Baum, ein Schneckenhaus ertaste, weiß ich: Aha, jetzt bin ich in dieser Höhe.“ Rieselnder Sand, bröckelnder Fels oder der Wind helfen ihm, seine Umgebung zu erfassen. Holzer schnalzt, um sich am Echo der Felsen zu orientieren, und wirft Sandkörnchen gegen die Bergwand, um Entfernungen abzuschätzen. Sobald sich die Sicht verschlechtert, greifen seine Kletterkollegen auf Holzers feinsinnige Wahrnehmung zurück.

Die Angst zum Freund

Bis vor drei Jahren stand Holzer in der Massagekabine des Lienzer Krankenhauses. Die bandscheibengeplagten Patienten setzten auf das Gespür des blinden Masseurs, sodass ratlose Ärzte immer wieder nach ihm verlangten. "Ich kann sofort den Bergsteiger, den Bauarbeiter oder den Kettenraucher auf der Massagebank identifizieren“, beschreibt er. Nun hat er den Beruf zur Seite gestellt, weil er vielen Menschen in einem Saal mehr mitgeben könne.

Seine Frau Sabine hat er durch ein Hobby, das Funken, kennengelernt. Monatelang kannten sich die beiden nur über die Stimme. Wenn Holzer am Berg ist, kommuniziert das Paar über Satellitentelefon. "Es kommt auch vor, dass ich vier Tage nichts von ihm höre, aber keine Nachricht ist immer eine gute Nachricht“, sieht seine Partnerin die Expeditionen gelassen.

Die Angst ist für ihn einer seiner wichtigsten Partner: "Das ist ja nur jemand, der mir auf die Schulter klopft und sagt, dass ich jetzt etwas ändern muss, weil mir ansonsten etwas passieren. Angst hat mit meiner Intuition zu tun.“

Das fasziniert Holzer am Bergsteigen: Die Eigenverantwortung, das Handeln am eigenen Körper zu spüren. "Wenn du auf 7000 Meter eine Entscheidung treffen musst, kannst du niemanden auf dieser Welt anrufen und die Schuld für dein Problem geben. Wenn alles wie geplant klappt, bist du am Gipfel und hast einen wunderschönen Tag. Wenn du einen kleinen Fehler machst, ist es vorbei.“

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