BSE - ein Appell zur Kurskorrektur

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BSE - ein alter Hut, Schlagzeilen vor zehn Tagen. Aber wurden die notwendigen Lehren gezogen?

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BSE - ein alter Hut, Schlagzeilen vor zehn Tagen. Aber wurden die notwendigen Lehren gezogen?

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Viel Information gab es. Keine Frage. Aber zeichnen sich Reaktionen ab, die auf einen Lernprozess hindeuten? Allein die Tatsache, dass sich die EU-Regierungs-chefs in Nizza auf nichts anderes als auf einen sechsmonatigen Stopp für Tiermehl, das höchstwahrscheinlich die Krankheit überträgt, einigen konnten, zeigt: Die Gefahr, dass man in der Sache bald wieder zur Tagesordnung übergeht, ist sehr groß.

Dabei ist die BSE-Krise ein Lehrbeispiel für viele Fehlentwicklungen unseres Systems, geradezu ein Menetekel.

* Punkt eins: Unser wegen seiner Dynamik so hoch gepriesenes Wirtschaftssystem erweist sich als sehr träge, Bedrohungen zur Kenntnis zu nehmen. Die bovine spongioforme Enzephalopathie, kurz BSE, eine Rinderkrankheit, die zu schwammartigen Veränderungen im Gehirn der Tiere führt, ist nämlich schon seit 1985 bekannt. Damals trat sie erstmals in Großbritannien auf, wurde aber nicht wirklich ernst genommen. Noch 1992 habe das britische Landwirtschaftsministerium alle Register gezogen, um das Problem herunterzuspielen, berichtete der britische Mikrobiologe Stephen Dealler in der FAZ.

Ähnliches dann auf EU-Ebene: Offene Märkte und freier Warenverkehr hatten lange Zeit Vorrang vor gesundheitspolitischen Überlegungen. Selbst als 1995 offenkundig wurde, dass die Rinderkrankheit Menschen gefährdet, kam es nicht zu einschneidenden Konsequenzen. Damals wurde nämlich in England eine neue Form der schon vorher bekannten Creutzfeldt-Jacob-Krankheit entdeckt. Sie wird - wie Untersuchungen mittlerweile ergaben - mit größter Wahrscheinlichkeit vom Genuss BSE-verseuchten Fleisches hervorgerufen. Und als 1999 die Zahl der Erkrankungen rückläufig zu sein schien, hieß es sofort, das ganze Problem sei schrecklich übertrieben worden. Die neuesten Zahlen widerlegen diese Behauptung: 31 neue Erkrankungen und 23 Todesfälle allein im Jahr 2000. Lege man eine Trendlinie durch das bisherige Geschehen, so ergebe sich eine Verdoppelung der Creutzfeldt-Jacob-Erkrankungen alle zwei Jahre, meinte der Genetiker Erwin Heberle-Bors in einer Fernsehdiskussion. Eine Epidemie sei nicht auszuschließen.

* Punkt zwei: Die Wissenschaft kann nur beschränkt Gefahren erkennen. Das bedingt ihre Methode. Sie lernt eben nur aus Erfahrungen. Daher steht sie den neuen Erkrankungen, BSE und Creutzfeldt-Jacob relativ hilflos gegenüber. Erkannt wurde, dass da Veränderungen an Eiweißmolekülen im Gehirn (Prionen), die bisher kaum untersucht worden waren, im Spiel sind. Mittlerweile weiß man auch, dass die veränderten Moleküle sehr resistent sind: hitzebeständig und langlebig. Daher kann die Krankheit auch über Tiermehl (selbst über jenes, das bei 133 Grad erzeugt wird und als sicher galt) übertragen werden. Da nun aber Tiermehl auch zur Düngung verwendet wird, besteht durchaus die Möglichkeit, dass Weideland auf diese Weise infiziert wurde. So jedenfalls ein Gutachten des wissenschaftlichen Beirats Bodenschutz beim deutschen Umweltministerium. Ob sich da nur Weidetiere oder auch Bodenpilze und Mikroorganismen anstecken können, ist ungewiss, aber nicht auszuschließen. Das könnte jedenfalls erklären, wa-rum unter den Creutzfeldt-Jacob-Todesfällen auch eine Vegetarierin anzutreffen ist.

* Punkt drei: Die Folgen menschlicher Eingriffe können also großräumig und unüberschaubar in ihren Konsequenzen sein. Sollten die Böden tatsächlich verseucht sein, wäre das sehr schlimm. Dass es bisher unbemerkt blieb, kann auf die möglicherweise Jahrzehnte währende Inkubationszeit bei Creutzfeldt-Jacob (bis zu fünf Jahren bei BSE) zurückzuführen sein. Genaues kann die Wissenschaft derzeit nicht sagen. Sie hat auch noch keine geeigneten Testverfahren entwickelt, um lebende Tiere zu untersuchen. Sie weiß nicht, wie die Übertragung stattfindet und kann die Krankheiten daher auch nicht therapieren. BSE und Creutzfeldt-Jacob enden tödlich. Die Schätzungen über mögliche Opferzahlen liegen zwischen hunderten und hunderttausenden.

Alles unbedenklich?

* Punkt vier: Wissenslücken sind nicht der Wissenschaft an sich vorzuwerfen, wohl aber jenen, die sich bei Einführung neuer Praktiken darauf berufen, beim derzeitigen Stand des Wissens sei alles unbedenklich. Der jeweilige Wissensstand reicht eben nicht, um weitreichende Entscheidungen im großen Stil zu treffen.

* Punkt fünf: Der Umgang mit Problemen dieser Art ist eine Gratwanderung: Je nach Inte-ressenlage neigen die einen zur Dramatisierung, die anderen zum Herabspielen der Bedrohung. Daher ist es äußerst schwierig, einen realistischen Blick auf die Lage zu bekommen, umso mehr als mächtige Interessengruppen im Spiel sind. Daher sei hier ausdrücklich die Hoffnung geäußert, dass die von BSE ausgehenden Gefahren bald erkannt und beherrscht werden.

Gleichzeitig aber möge das Gefahrenpotenzial der BSE-Krise als Warnung vor ähnlichen Groß-Experimenten an Mensch und Natur dienen. Es sollte eine Lehre für die Gentechnik-Debatte sein.

* Punkt sechs: Industrielle Produktionsverfahren sind nur beschränkt auf die Herstellung von Lebensmitteln anwendbar. Deren Erzeugung in immer größeren Einheiten forciert die Bedeutung von Haltbarkeit, Transportfähigkeit, Aussehen und niedrigem Preis. Sie zwingt den Produzenten zu pflanzen-, boden- und tierwidrigen Formen der Erzeugung, deren negative Folgen nahe liegen, aber schwer, wenn überhaupt, nachweisbar sind. Und es führt zu einer sozial und wirtschaftlich ruinösen Entwicklung.

Ist es nicht gegen jede Vernunft, in einer Zeit der Milchseen, der Butter- und Fleischberge fortgesetzt neue Methoden der Rationalisierung zu "pushen", nur um Nahrungsmittel um ein paar Schilling billiger zu produzieren? Und dies auf Kosten der Bauern, der Tiere, der Schönheit der Landschaft, der Gesundheit der Konsumenten und der öffentlichen Haushalte, die in Krisenfällen zur Kassa gebeten werden und auch für die Umweltkosten dieser unsinnigen weltweiten Verschiebung von Tieren und Pflanzen aufkommen müssen.

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