Bukiets neuerBalanceakt

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Ein neuer Messias-Roman, voll von Provokationen für alle.

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Ein neuer Messias-Roman, voll von Provokationen für alle.

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Die Romane von Melvin Jules Bukiet sind Widerhaken, die sich nicht leicht aus dem Gedächtnis reißen lassen. Sie schwären weiter, als Fragen: Ist dies schon jenseits der Kippe des schlechten Geschmacks und erst recht einer positiv verstandenen politischen Korrektheit? Ist es diesseits dessen, was man heute mit gutem Gewissen sagen kann - ohne Angst, mißverstanden zu werden? Diese Gefährlichkeit hatte bereits der Einstandsroman des 1953 geborenen New Yorkers Bukiet, seine böse Geschichte "Danach" über jüdische Opfer der Massenvernichtung in Deutschland, wo er auch das Leben mit der Shoa und das Geschäft mit den Toten nach dem Ende des Krieges in den Mittelpunkt rückte.

Die Thematik läßt ihn auch im zweiten Buch nicht los, und er wirft seine Widerhaken, seinen Zynismus und seine Ironie, gezielt aus in den Zeitgeisttümpel: Literatur darf alles, und das ungeschminkt. "Zeichen und Wunder" spielt im heutigen Deutschland. Das Land ist mit der Erscheinung eines neuen Messiaskonfrontiert, und zu allem Überfluß ist er, wie schon der alte, ein Jude. Der Messias hat in letzter Zeit schon einmal in der Literatur deutschen Boden betreten, und zwar in Rafik Schamis Erzählband "Die Sehnsucht fährt schwarz", wo Christus Probleme bekommt, als er sich bei der Einreise als Vater Gott/Yussuf deklariert und sein Erscheinen Geistliche und Politiker auf den Plan ruft. Was bei Schami als schlanke Gedankenspielerei begann, hat, führt Bukiet in Cinemascope aus.

Alles beginnt auf der Farnhagen vor Hamburg, einem Gefängnisschiff. Schiffe sind billiger und sicherer als neue Zuchthäuser. Snake Hammurabi, ein Drogendealer, der als Kind von Diplomaten bereits durch alle Sekten und Heilslehren gegeistert ist, wird in eine Zelle eingeliefert, weil er in einer Kirche seine Notdurft verrichtet hat. So beginnt auch der Roman: "Gott ist das Problem". Die Zelle beherbergt eine mehr als illustre Schar: einen Ringer, der wegen Totschlags einsitzt, einen Mörder, dessen bevorzugte Instrumente Schrotflinten und Eispickel waren, einen Kidnapper, einen Buchhalter, der seinen schwulen Geliebten im Affekt erstach, einen Vergewaltiger, einen Witwenmörder, einen Brandstifter, einen Obersturmbannführer aus Bergen-Belsen und einen Mann namens Ben Alef, dessen Verbrechen unbekannt sind, der nichts ißt, nicht schläft und trotzdem lebt, und das seit Jahren.

In einem Jahrhundertsturm wird das Schiff losgerissen, alle Insassen und Bewacher sterben - außer den Zwölf aus der Zelle von Ben Alef, die über das Wasser gehen. Ein Fischer sieht den gespenstischen Zug und weiß sofort: "Er ist auferstanden", um sich ihnen sogleich anzuschließen. Als Ben Alef in einem kleinen Dorf plötzlich die Zeremonie einer Hochzeit in die Hand nimmt, sie ganz selbstverständlich im jüdischen Ritus abhält und alle Gäste durch ein Maiskolbenwunder verköstigt, beginnt die Bekehrung im Norden Deutschlands.

Die Öffentlichkeit erfährt davon, da die "Frankfurter Allgemeine" zufällig in Gestalt eines zweitrangigen Sportreporters Zeuge des Unglaublichen war. Im nächsten Ort werden die 13 Männer bereits offiziell begrüßt. Daß Ben Alef, der ebenfalls in Bergen-Belsen war, so behauptet es die Mär und seine Nummer auf der Hand, den Obersturmbannführer gleich zweimal ins Leben zurückholt, ist ein Beispiel für Bukiets Ironie.

Wie bei Rafik Schami sieht auch bei ihm der Papst Kirche und Macht in Gefahr. Gemeinsam mit dem Bundeskanzler wird eine Verschwörung geplant, die spät, fast zu spät, greift. Ben Alef zieht durch die Lande, vermehrt Mais und wird verhaftet, da er als entkommener Häftling entlarvt wird. Die Anhänger vor dem Gefängnis beginnen sich zu verstümmeln, verbrennen sich die Hände mit Alefs KZ-Nummer: "Sie machen sich selbst zu Juden". Die einzige Botschaft der "Neuen Juden" ist ihre Selbstbezichtigung, die letztlich in der Aussage mündet, "daß man alles tun und dennoch Frieden finden" könne. Eine Massenhysterie erfaßt Deutschland. Vor den Buden und Läden, in denen sich Menschen die KZ-Nummer Ben Alefs eintätowieren lassen, bilden sich Schlangen. Wenn Ben Alef auftritt, um nichts zu sagen, ist er flankiert von seinem Sprecher Snake zur Rechten und von Eisenheim, seinem "historischen" Mörder, zu seiner Linken.

Selbst als enthüllt wird, daß Alef sich die Häftlingsnummer nach dem Krieg eintätowieren ließ, schwächt dies die Bewegung nicht sonderlich. Die Erlösung von der Hysterie wird in einer Konferenz in Angriff genommen, die durch Zufall in einer Villa stattfindet, wo vor 60 Jahren eine Gruppe von Männern die "Lösung eines ganz anderen Problems" sich zum Ziel gesetzt hatte. Die Zweite Wannsee-Konferenz entwirft einen Plan A und einen Plan B - für alle Fälle.

Ascher Rose ist ein Überlebender der Shoa und eine weltbekannte Figur. Er wird von der Konferenz auserwählt, den Mythos der Alefiten zu zerstören. Bei einer Veranstaltung leugnet Ascher den neuen Gott - und die aufgebrachte Menge lyncht ihn und beginnt die Synagogen und die (alten) Juden zu verfolgen. Daß die Konferenz als Alternative auf den Obersturmbannführer Eisenheim verfällt, der dem Spuk ein Ende setzen soll, ist einer von Bukiets unzähligen Widerhaken.

So bösartig, so voll doppelter Ironie die Geschichte ist, mit dem Finale vergibt der Autor leider große Möglichkeiten. Der Showdown im Disneyland kann nicht mehr nacherzählt werden. Da klebt der Autor nur noch Abziehbild neben Abziehbild, Aufkleber neben Aufkleber. Mit der Apokalypse der Mediengesellschaft hat sich schon Salman Rushdie in seinen letzten beiden Romanen schwer getan. Schade, denn durch diesen Schluß lösen sich die Widerhaken leichter, wo sie doch festsitzen sollten. Denn die zentrale Passage des Buches, die auch die Motivation für seine Entstehung enthüllt, macht deutlich, mit welcher Kraft der Autor Bilder findet. Eine Motivation ist offenbar, das schlechte Gewissen Nachkriegsdeutschlands und einen zuweilen daraus resultierenden Philosemitismus samt dessen demonstrativen offiziellen Inszenierungen bloßzustellen.

Die zentrale Passage bringt es auf den Punkt: "Juden! Kein anderes Wort im deutschen Wörterbuch war so entsetzlich. Trotz der großen, jahrhundertealten Verlagshäuser des Landes und seiner internationalen Elektronikkonzerne, trotz der genügsamen Volkswagen und der luxuriösen Porsches, die seine Fabriken, angefüllt mit gut behandelten, in Gewerkschaften organisierten Arbeitern, produzierten, trotz der Stimme menschlicher Freundschaft, für die sein Botschafter bei den Vereinten Nationen eintrat, trotz seiner Nobelpreisträger in Literatur und Naturwissenschaft, trotz seiner medizinischen Fortschritte und seines hervorragenden Schulsystems, trotz seiner freiwillig und endlos anerkannten Schuld und Reue und den Milliarden an Reparationszahlungen, die die Bundesrepublik im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts geleistet hatte, wird nicht mehr als dieses ,J'-Wort nötig, um allen deutschen Männern, Frauen und Kindern die Verkleidung von Kultur und Zivilisation herunterzureißen und sie erneut in schwarze Lederstiefel und mit dem Zeichen des verdrehten Kreuzes geschmückte Braunhemden zu kleiden. Das ,J'-Wort trieb den modernen Homo germanicus zurück zu der zwölfjährigen Herrschaft des Tausendjährigen Reiches und dessen einzigem bestimmenden Moment der Apotheose, zu der Zeit nämlich, als sich die gesamte Nation zu dem gewaltigen nationalen Projekt verbündet hatte, ein anderes Volk auszurotten und zu Asche zu verbrennen ...

Warum? Weil die Juden arm waren oder weil sie reich waren. Weil sie cliquenhaft und für sich waren oder weil sie Zylinder trugen und die Oper besuchten ... Weil sie, wie der Mount Everest, da waren. Weil. Jedesmal, wenn das ,J'-Wort fiel, war es, als stocherte eine Sonde in einem ungeheuren Loch im deutschen Gemeinschaftsschlund. Und trotzdem konnte es sich die gigantische deutsche Zunge nicht verkneifen, alle paar Minuten dieses Loch zu betasten, um sich selbst der pochenden Fäulnis unter dem kultivierten Zahnschmelz zu erinnern."

Literatur darf alles, und das ungeschminkt, und ist auch der Verpflichtung enthoben, Alternativen zu zeigen. Bei Bukiet bleibt die "pochende Fäulnis" unter der bemühten Oberfläche, und alte Reflexe wie Pogrome können jederzeit leicht wieder hervorbrechen. So gesehen ein brillant böses Buch, aber zugleich auch ein zutiefst pessimistisches.

ZEICHEN UND WUNDER Melvin Jules Bukiet Luchterhand Verlag, München 1999 526 Seiten, geb., öS 350,- / e 25,43

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