Cannes 2010: Der Tod spielt die Hauptrolle

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Der Tod als Leitthema: Die Sieger-Filme von Cannes erzählen von Vergänglichkeit, Reinkarnation und davon, wie das Kino Leben konservieren kann. Bedauerlicherweise kamen viele der gezeigten Produktionen über das Mittelmaß nicht hinaus.

Zwei rote Augen blitzen aus dem Dunkel des Dschungels auf. Hell wie Laserstrahlen tasten sie die Umgebung ab. Sie gehören einem Wesen, nicht Mensch, nicht Tier, am ähnlichsten einem Affen vielleicht. Es ist eine skurril-schaurige Figur, wie aus einem Film von Tim Burton. Dessen Vorliebe für surreale Phantastik mag den Ausschlag gegeben haben, weshalb die Jury unter seiner Leitung den thailändischen Beitrag „Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives“ mit der Goldenen Palme prämiert hat. Ein unkonventioneller Siegerfilm, in dem Regisseur Apichatpong Weerasethakul die Geschichte eines Sterbenden erzählt: Ein todkranker Mann reflektiert auf seine früheren Leben, tritt mit seiner verstorbenen Frau in Kontakt und hat eine Begegnung mit dem rotäugigen Affenmenschen, der sich als sein verschollener Sohn entpuppt. Später kommt es in diesem spirituell-hypnotischen Filmexperiment auch noch zu einer Sexszene zwischen einer Frau und einem Fisch (!). „Uncle Boonmee“ ist mehr als visuelle Provokation – Weerasethakul zeigt eine intelligent erdachte Zwischenwelt zwischen Leben und Tod. Mit fast kindlicher Unschuld fantasiert er über das Dasein und die Vergänglichkeit und lässt dem Zuschauer dabei viel Raum zur Interpretation.

Statement gegen Arthaus-Drama

Die unkonventionellen Bilder dieser wunderlichen Weltsicht brennen sich unauslöschlich in die Erinnerung ein. Die Goldene Palme unter der Juryleitung des Fantasten Tim Burton ist wie ein Statement gegen das pseudorealistische Arthaus-Drama. Da wie dort steht das Leid im Vordergrund, doch nie war es bunter, exotischer, surrealer als in „Uncle Boonmee“. So muss innovatives Kino sein: mutig in Inhalt und Form, sich dem Mittelmaß verwehrend.

Denn Mittelmaß gab es bei diesem Festival genug: Der seltsam unglamouröse Wettbewerb begründet darauf, dass viele Filme, deren Teilnahme man erwartet hatte, nicht rechtzeitig fertig wurden: Die neuen Werke von Terrence Malick, Clint Eastwood, Tom Tykwer, Sofia Coppola oder Julian Schnabel werden mittlerweile als Kandidaten für das kommende Festival in Venedig gehandelt.

Die Auswahl von Kreativ-Direktor Thierry Frémaux spiegelte daher eine gewisse Ratlosigkeit wider: Es gab desaströs gespielte US-Ware wie Doug Limans Spionage-Drama „Fair Game“ mit Naomi Watts und Sean Penn, pompöses, nichtssagendes Kostümkino von Bertrand Tavernier („La princesse de Montpensier“), den peinlichen Mafia-Thriller „Outrage“ von Takeshi Kitano, den verunglückten Polit-Thriller „Route Irish“ von Ken Loach oder das hysterische Film-Varieté des Schauspielers Mathieu Amalric, der für sein Regiedebüt „Tournée“ über Burlesque-Künstlerinnen unverständlicherweise den Regiepreis erhielt. Aber auch hier ist Burtons Handschrift erkennbar: je skurriler, desto besser.

Jedoch wäre dieser Regie-Preis besser in den Händen von Abbas Kiarostami aufgehoben gewesen: Der Iraner zeigt mit „Copie conforme“ die 15-jährige Beziehung eines Paares in Echtzeit: Vom Kennenlernen über die Hochzeit bis zur Trennung und Wiederversöhnung schlendert das Paar philosophierend durch die Toskana. Die Zeitsprünge passieren dabei nur im Dialog, die Einheit von Zeit und Ort im Bild bleiben erhalten. Ein gelungenes Spiel mit Dramaturgie, das die Jury unberücksichtigt ließ. Nur Juliette Binoche erhielt den Preis als beste Darstellerin.

Bei den Herren teilten sich Javier Bardem und der Italiener Elio Germano den Schauspielerpreis. Für zwei Filme, die besagtes Mittelmaß nicht übertrafen: Elio Germano spielt in „La nostra vita“ von Daniele Luchetti einen Familienvater, dessen Frau viel zu früh verstarb und der seine Trauer in Arbeit ertränkt. Bardem spielt in „Biutiful“ einen Krebskranken, der im Substandard in Barcelona lebt und dort seinen Abschied von Frau und Kind vorbereitet. Alejandro Gonzáles Inárritu müht sich mit Struktur und Konstruktion ab, und Bardem muss das Inszenierungschaos auf seinen Schultern retten.

Konsequente Inszenierungen

Konsequenter ist die Inszenierung des aus dem Tschad stammenden Mahamat Saleh-Haroun (Preis der Jury). Er berichtet in „Un homme qui crie“ von einem Mann, der seinen Sohn in den Krieg und damit in den sicheren Tod schickt. Die stoische Mise-en-scène wirkt lange nach.

Auch Xavier Beauvois ist ein Stoiker. Er erzählt in „Of Gods and Men“ (Großer Preis) bedächtig von jenen acht katholischen Mönchen, die 1996 in Algerien von islamischen Rebellen entführt und ermordet wurden. Den stillen, inneren Kampf zwischen Gottvertrauen und Überlebenswillen ficht jeder der Mönche mit sich selbst aus. Am Ende siegt die Freiheit des Glaubens, und die wird mit dem Leben bezahlt.

Wenn es also ein Leitthema für diese prämierten Filme gab, dann ist es der Tod. Sie sehen in der Ausweglosigkeit des Daseins den Tod als Endpunkt des Lebens. Vielleicht ein Hoffnungsschimmer: Der wundersame „Uncle Boonmee“ begreift ihn als Phase der Transformierung zwischen den Welten. Die romantische Idee der Unvergänglichkeit, sagt Apichatpong Weerasethakul, gelte gerade und vor allem für das Kino – als Werkzeug, um ein Stückchen Leben für immer einzufangen.

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