Feuchtgebiete - Ines Schiller und Benjamin Berger am 25. 9. 2008 bei der Hauptprobe zu "Feuchtgebiete": Christina Friedrich hat den Bestseller von Charlotte Roche für das "neue theater" in Halle (Saale) inszeniert.  - © Foto: Peter Ending dpa/lah

Charlotte Roche: Der Körper ist ein Skandal

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Körper müssen vollkommen sein, suggeriert uns die Werbung. Vergänglichkeit und Endlichkeit werden zum gesellschaftlichen Tabu. Eine skandalös christliche Lektüre der „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche.

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Körper müssen vollkommen sein, suggeriert uns die Werbung. Vergänglichkeit und Endlichkeit werden zum gesellschaftlichen Tabu. Eine skandalös christliche Lektüre der „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche.

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Der Körper ist ein Skandal. Denn von nichts anderem handelt der „Skandalroman“ „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche als vom Körper der achtzehnjährigen Helen Memel. Der Körper – ein Skandal? Ausgerechnet der Jungmädchenkörper, den wir in jedem Werbeblock mehrmals konsumieren, dem wir täglich am Weg zur Arbeit überlebensgroß auf Plakatwänden begegnen, der in keinem Film fehlt? Wie kann uns der Körper noch schockieren, 40 Jahre nach 1968 und Oswald Kolle, haben wir den Körper nicht befreit zu jener tabulosen medialen Allgegenwart in allen Posen?

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Eben deshalb, weil diese virtuellen, jungen, vollkommenen Körper omnipräsent sind, ist „Feuchtgebiete“ ein Skandal. Charlotte Roche spielt eine radikale Variante von „des Kaisers neue Kleider“: Sie ruft uns nicht zu, dass der Körper nackt ist, sondern dass er unter seiner virtuellen Haut Körper ist, und das heißt vergänglich. Der Skandal des Körpers ist der Skandal seiner Körperlichkeit, seiner Endlichkeit und Vergänglichkeit. Wir verkraften zerstückelte Körper, Körper in allen denkbaren sexuellen Verrenkungen, tote Kinokörper sowieso – aber einen ganz banal schwitzenden und stinkenden Körper, der Menstruationsblut und andere Flüssigkeiten absondert, das skandalisiert uns.

„Nur Häretiker müssen sich waschen“

„Feuchtgebiete“ ist Blasphemie und radikale Kultkritik für eine Gesellschaft, deren Religion um den perfekten Körper kreist. Der Körper war schon immer der eindrücklichste Symbolträger einer Gesellschaft, deren Werte, Normen und Tabus ihren Mitgliedern buchstäblich „auf den Leib geschrieben“ werden. Gerade das Christentum wusste sich von Anfang an dieses Symbolträgers zu bedienen, auch das Christentum erreichte seine Bekanntheit am religiösen Markt der Spätantike mit einem doppelten Skandal der Körperlichkeit: Wer meint, die Hygienevorstellungen der Protagonistin der „Feuchtgebiete“ seien fragwürdig („Hygiene wird bei mir kleingeschrieben. […] Bloß nicht zuviel waschen.“), sollte lieber nicht die Vita des Hl. Antonius lesen, von dem es heißt, „seinen Körper wusch er nicht mit Wasser … ohne dringende Not“. Wenn der Körper das Maß aller Dinge ist und über Sein oder Nichtsein in der Gesellschaft entscheidet, dann läuft die wirkungsvollste Kritik an dieser Gesellschaft über den Körper, den man konsequent der gängigen Deutung entzieht, ja dessen Symbolwert man umdreht: Nicht mehr steht der schöne Körper für den schönen Geist wie noch bei Platon, vielmehr soll der schmutzige Körper auf die reine Seele verweisen. „Nur Häretiker müssen sich ständig waschen“ heißt es im Mittelalter, „Christen sind schon rein.“ Gleichzeitig imaginieren die verwilderten und ungewaschenen Asketen als erste etwas anderes: einen himmlischen Körper, einen, der unter dem irdischen Körper durchzuschimmern beginnt, wenn man die Prioritäten richtig setzt.

Die Körper, die wir heute tagtäglich dutzendfach konsumieren, sind himmlische Körper, ausgestattet mit all jenen Eigenschaften, wie sie die christlichen Theologen jahrhundertelang dem Auferstehungskörper zuschreiben, dessen Vorabglanz die Asketen zu erreichen hoffen: vollkommen, unveränderlich, unbeschreiblich schön, keinem Wandel unterworfen, von einer anderen, ätherischen Art der Materialität und frei von allem, was veränderlich und vergänglich ist. Es ist kein Zufall, dass die perfektesten dieser Werbekörper oft scheinbar schwerelos im Himmelsblau schweben, eingehüllt in Licht wie die Engelskörper der christlichen Tradition. Allerdings findet dieser Himmel seit Karl Marx und der modernen Marktwirtschaft zunehmend auf der Erde statt, und an die Auferstehung des Fleisches glauben nur mehr einige Hardcore-Katholiken. Also gilt in Bezug auf den Körper „transcendence now“: Der Körper wird zum Träger der vormals religiösen Versprechen von Erlösung und Vollendung, am Körper muss die himmlische Seligkeit sichtbar werden in jener Vollkommenheit, wie es sie in der Welt nach dem Sündenfall nicht mehr gibt. Der Körper ist Gegenstand und Ziel der Erlösung in einem: Unvergänglichkeit versprechen uns alle Produkte der Schönheitsindustrie, Unveränderlichkeit, vollkommene Glückseligkeit, ist doch der perfekte Körper Voraussetzung für das perfekte Essen, den perfekten Auftritt, den perfekten Orgasmus etc.

Und sie versprechen uns, so paradox es klingen mag, Unkörperlichkeit: Einen Körper, der nicht schwitzt, nicht altert, der nicht verdaut, der zwar permanent Lust erregt und verspürt, aber keine körperlichen Zeichen dieser Lust kennt, kein getrocknetes Sperma, keine roten Flecken. Der Körper, den wir heute allgegenwärtig sehen, gaukelt uns eine Transzendenz vor, die kleiner ist als die kleinste Transzendenz des Religionssoziologen Thomas Luckmann.

Die Transzendenzhoffnung des Menschen setzt heute ausgerechnet in der Immanenz schlechthin an: im Körper.

Das kann nicht gut gehen. Damit es wenigsten so aussieht, als würde es gut gehen, waschen wir, rasieren wir, lassen wegschneiden und hinzufügen, peelen und hungern, alles Rituale in der Religion des Körpers, deren Nicht-Einhaltung kollektive Empörung hervorruft. Helen Memel, Heldin der „Feuchtgebiete“, ist Religionskritikerin in Theorie und Praxis.

Die noch weitgehend etablierte christliche Religion schweigt einstweilen ratlos bis empört. Schwerer als die moralischen Fundamentalisten, denen jeder Gedanke an Körper und Sexualität außerhalb der Ehe schon schwere Unzucht ist, tun sich noch die ihrem Selbstverständnis nach Progressiven: Haben sie nicht jahrzehntelang dagegen gekämpft, dass der Körper nicht mehr als „Blut und Schleim, Feuchtigkeit und Galle“ erfahren wird, wie es bei dem mittelalterlichen Mönch Odo von Cluny heißt? Wollten nicht moderne Theologinnen und Theologen den Körper befreien von traditioneller Leibfeindlichkeit, aufrufen zur Freude am Körper? Und jetzt beendet ein Roman wie „Feuchtgebiete“ alle Illusionen von wohltuender Ganzheitlichkeit. Beide, die Konservativen wie die Progressiven, sind der Illusion der Moderne erlegen: Die einen wollten (und wollen noch) den Körper normieren, jede Regung „überwachen und strafen“ (Michel Foucault), die anderen den Körper zu einem „Feel-good“-Leib weichzeichnen.

Erinnerung an den Skandal

Der Skandal des körperlichen Körpers ist aber zugleich der Skandal des Christentums. Noch weit mehr als ungewaschene Gottsucher in der Wüste schockierte die Spätantike die Vorstellung eines körperlich leidenden, schwitzenden, blutenden, sterbenden Gottes. Ein Gott muss jung sein, schön, vollkommen, strahlend, selbst bei physischer Anstrengung dürfen ihm nur einige feuchte Haarsträhnen fotogen in die Stirn fallen, ein Gott wie aus einem Werbespot für Jeans oder Rasierwasser. Mit einem Gott, der Aussätzige und Menstruierende berührt und schließlich voll mit Speichel, Blut und Schweiß ans Kreuz genagelt wird, waren die Zeitgenossen des frühen Christentums ebenso überfordert wie wir.

Abstrakte Kreuze sind groß in Mode (deutsche Kollegen an der Theologischen Fakultät wundern sich noch nach Jahren über die barocken Kreuze mit blutüberströmtem Corpus im archaischen Österreich). Wer auf sich hält, lässt das Kreuz am besten künstlerisch verschwinden, übermalen, nur die ganz Mutigen hängen sich verschämt noch Werke von Bettina Rheims auf – eine schöne, nackte Frau am Kreuz verletzt die Religion der Ästhetik allemal weniger als das blutige Fleisch der „Feuchtgebiete“.

„Feuchtgebiete“ ist keine christliche Erbauungslektüre. Auch kein Text, in den man christliche Lehren hineininterpretieren kann. „Feuchtgebiete“ sollte aber eine Erinnerung sein für das Christentum an jenen Skandal, dem es seine Existenz verdankt: an einen Gott, der körperlicher Mensch geworden ist. Der Skandal des Körpers ist der Skandal des Christentums, ohne ihn bleibt uns nur noch die erbärmlich kleine Transzendenz der Parfumwerbung.

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