Charme der Virtualität

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Die Börsianer wissen längst, dass es auf so altmodische Fakten wie Produktivität und Wirtschaftsleistung nicht ankommt. Was zählt, sind Vermutungen über Auf- und Abstieg der Aktien, ausgelöst von Wortmeldungen aus dem Munde von Generaldirektoren oder Notenbankpräsidenten. Die langjährige Denunziation "verkopfter" Entscheidung hat sich durchgesetzt. Auf den Finanzmärkten regiert der Bauch, wo die Emotionen zu Hause sind.

Das Faktische, Belegbare, Durchdachte ist zu schwerfällig für eine schnelle Beurteilung der Lage. Hoffnungen wie Enttäuschungen stützen sich auf winzige Indizien, die zu virtueller Gewissheit anschwellen. Das hat zur Folge, dass die öffentliche Diskussion über unerschöpfliches Material verfügt und sich erspart, den Hintergründen nachzugehen. Das Vehikel dafür ist der "Sager", und die Kunst, ihn zu produzieren, ist kein Privileg der Geldwirtschaft. Kampl nennt Deserteure Kameradenmörder, Schüssel nennt Haider eine konstruktive Persönlichkeit - die Beispiele lassen sich beliebig vermehren, die Medien leben davon.

Die römische Kirche hat ebenfalls dazugelernt. "Santo subito" haben die Leute nach dem Tod des alten Papstes gerufen, und einige Sager des neuen Papstes über die Notwendigkeit des Dialogs haben überschäumende Hoffnungen geweckt. Virtualität verleiht eine glanzvolle Aura, wenigstens für den Augenblick, bis zum nächsten Sager. Die Wahrheitsfrage wird erst gar nicht gestellt, nicht einmal nach Wahrscheinlichkeit wird gefragt. Lässt sich aus den jubelnden und klatschenden Menschenmengen auf dem Petersplatz auf zunehmende Glaubenskraft schließen, wie manche aktuelle Sager behaupten? Wir bewegen uns politisch wie kirchlich längst in jenen virtuellen Scheinwelten, die dem nächsten Börsenkrach vorausgehen. Charme des Virtuellen - führe uns nicht in Versuchung!

Der Autor ist freier Journalist.

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