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Immer mehr Menschen erkranken, weil ihr Körper mit der vielfältigen Belastung der Umwelt durch Chemikalien nicht zurechtkommt. Eine Publikation des Umweltministeriums beleuchtet das Problem.

Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS) - ein Wortungetüm, hinter dem sich ein Phänomen verbirgt, das in den Industrieländern an Bedeutung gewinnt. Es geht um einen diffusen, schwer erfassbaren Komplex von Beschwerden, deren Schweregrad sehr unterschiedlich ist und bis zur Berufsunfähigkeit führen kann. Meist wird die eigentliche Ursache der Erkrankung nicht erkannt: der Kontakt mit Chemikalien. Diesem Krankheitsbild widmet sich der eben erschienene Tagungsband des Umweltministeriums "Multiple Chemikalien-Sensibilität".

Welches sind die Symptome von MCS? In einem einleitenden Beitrag zum Thema zählt Univ. Prof. Werner Maschewsky aus Hamburg Erscheinungen auf, die der Normalverbraucher eigentlich nicht als schwerwiegend einstufen würde: Müdigkeit, Kopfschmerzen, Reizbarkeit, Schweißausbrüche ... Weiters können sich aber auch Vergeßlichkeit, Hörstörungen, Hautprobleme, Muskelschmerzen, Durchfälle einstellen. Oft nehmen die Störungen ein solches Ausmaß an, dass die Betroffenen nur mehr in einem von äußeren Belastungen weitgehend abgeschirmten Umfeld ihr Dasein fristen können. Bekannt ist der Fall der Alternativen Nobelpreisträgerin Cindy Duehring: Ohne das eigens für sie eingerichtete Überlebenshaus würde sie wohl sterben.

Konnte nicht mehr reden

Wie sich eine solche Krankheitsgeschichte darstellen kann, zeigt das Beispiel von Ingrid Scherrmann, einer von MCS betroffenen ehemaligen Lehrerin, die in dem Band zu Wort kommt. Ihre Erkrankung ist die Geschichte eines schleichenden Prozesses, der sich über 20 Jahre hinzieht: Zunächst nur lästige Beeinträchtigungen wie Husten, Infekte, Schwindel und Stimmprobleme. Dann gravierendere Symptome: Der Geruch von Parfum löst innerhalb von Sekunden Atemnot aus, aber auch die Unfähigkeit zu sprechen, zu stehen. Schließlich fast täglich hohes Fieber, extremer Schwindel, Schmerzattacken an wechselnden Stellen des Körpers. Putzmittel, Druckerzeugnisse, frische Farbanstriche lösen Attacken aus. Fazit: "Vor sechs bis neun Jahren ging es mir so schlecht, dass mir einige Ärzte nur noch wenig Überlebens-Chancen prophezeiten."

Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Symptome als MCS diagnostiziert werden, ist heute immer noch ziemlich gering. Hans-Peter Hutter vom Institut für Umwelthygiene der Universität Wien kennzeichnet in seinem Beitrag die typische Krankheitsgeschichte solcher Patienten: "Bei MCS-Patienten besteht in der Regel ein sehr hoher Leidensdruck, der auf die oft ergebnislosen Konsultationen, manchmal aber auch auf Fehldiagnosen bei den verschiedensten Institutionen zurückzuführen ist." Univ. Prof. Thomas Eikmann vom "Hessischen Zentrum für Klinische Umweltmedizin" prägt für diese Patientenkarriere den Begriff "jahrzehntelanges Doktorhopping". Denn: "Bei zwei Drittel der Patienten wurden die Beschwerden als psychosomatisch eingestuft."

Die Kette der Arztbesuche ende oft beim Psychiater, fasst Susanne Stark, eine Umweltberaterin, ihre Erfahrungen mit MCS-Patienten zusammen: "Wenn dann abgeklärt ist, die Person ist normal', ist häufig wenig weitere Hilfestellung zu erwarten. Man kann davon ausgehen, dass in vielen Fällen die Krankheit nie richtig erkannt wird."

Bedenkt man die komplexe Genese der Erkrankung und das geringe Wissen, ist die Ratlosigkeit vieler Ärzte nicht verwunderlich. Dennoch gäbe es ein besonderes Merkmal, an dem MCS zu erkennen ist, hält Eikmann fest: "Patienten, die von sich aus angeben, unter dem MCS-Syndrom zu leiden, unterscheiden sich von anderen umweltmedizinischen Patienten mit schwerwiegender Symptomatik im wesentlichen dadurch, dass ihre Beschwerden (nach eigenen Angaben) durch verschiedene chemische Substanzen ausgelöst werden und bereits bei Umweltkonzentrationen auftreten, die bei anderen Personen nicht zum Auftreten von Symptomen führen."

Krankhafte Eigendynamik

Offensichtlich ist bei MCS-Patienten das Immunsystem bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit belastet. Dann genügt oft eine geringe weitere Störung, um eine krankhafte Eigendynamik auszulösen. In den USA ist dieses Phänomen bekannter als in Europa: Dort wurden bisher rund 100.000 Fälle von MCS diagnostiziert. Untersuchungen über das Phänomen lassen Personengruppen erkennen, die besonders gefährdet sind. Maschewsky zählt auf:

* Personen, die beruflich viel mit Chemikalien in Berührung kommen etwa als Schweißer, Lackierer, Laboranten, aber auch Krankenpfleger wegen des massiven Einsatzes von Putz- und Desinfektionsmitteln in den Spitälern,

* Personen, die sich viel in klimatisierten oder stark abgedichteten Räumen aufhalten und Ausgasungen von Möbeln, Baumaterialien oder Tabakrauch ausgesetzt sind,

* Menschen, die in umweltbelasteten Gemeinden leben.

Mittlerweile gibt es bewährte Ansätze, mit der Krankheit zurechtzukommen. Sie ergeben sich vor allem aus den Erfahrungen der Betroffenen. Ingrid Scherrmann zählt auf, was ihr aus ihrer Misere herausgeholfen hat:

* Viel Studium der Thematik Umwelt und Gesundheit und viel Detektivarbeit, um die Auslöser zu erkennen,

* die Entwicklung von Vermeidungsstrategien und die Vermeidung von Experimenten sowohl mit der Schul- wie mit der Alternativmedizin,

* das Leben in einer möglichst schadstoffarmen Umgebung, der häufige Aufenthalt in Reinluftgebieten (am Meer), viel Bewegung im Freien, viel Trinken, bewusste Ernährung sowie

* Selbstdisziplin und Geduld.

Relativ einfach sei es, Parfum und Duftstoffen in Wasch-, Putzmitteln und Kosmetika auszuweichen, auf problematische Desinfektions- und Lösungsmittel zu verzichten, keine Handys zu verwenden, schildert die MCS-Patientin ihre Erfahrungen. Schwieriger sei es, entsprechende Möbel, Kleidung und Nahrung zu finden.

MCS lenke jedenfalls das Bewusstsein darauf, dass die Menschen insgesamt in einer an Schadstoffen ärmeren Umgebung leben sollten, resümiert Scherrmann. Die bisher registrierten Krankheitsfälle seien die ersten Alarmzeichen für ein Problem, das früher oder später einen Großteil der Bevölkerung betreffen werde.

Aufforderung zum Handeln

Diese Ansicht vertritt auch Jacob B. Berkson, ein MCS-Patient, der das von vielen Leidensgenossen als Standardwerk bezeichnete Buch "A Canary's Tale. The Final Battle" verfasst hat: "MCS kann jeden treffen. Niemand kann sicher sein, nicht der Autor, nicht der Leser, niemand. Der MCS-Kranke ist wie der Kanarienvogel in den Kohlenmine. Er warnt die Menschen vor der Vergiftung ihrer Umgebung und fordert zum Handeln auf."

Der Umstand, dass sich das österreichische Umweltministerium mit dieser Frage auseinandersetzt, zeigt, dass auf politischer Ebene die Frage der chemischen Belastung als Herausforderung erkannt ist. Tatsächlich lebt die Bevölkerung heute in einer durch rund 100.000 Chemikalien belasteten Umwelt. Zwar werden diese Stoffe in Wasser, Luft und Boden verdünnt und die meisten von ihnen treten in unserem Umfeld nur in sehr niedrigen Dosen auf. Aber sie sind vorhanden. Und viele werden über die Nahrungsmittelkette in relativ hohen Dosen im menschlichen Organismus angereichert.

Von den meisten chemischen Stoffen, die in unsere Umwelt gelangen, weiß man nicht, welche Wirkungen sie auf den Menschen haben. Zwar gibt es Erfahrungen mit berufsspezifischen Erkrankungen. Wo sie auftreten, legen Arbeitsmediziner Belastungsgrenzen fest, die möglichst ausschließen sollen, dass Berufskrankheiten auftreten.

Experiment am Menschen

Aber für die meisten chemischen Verbindungen gilt die Unschuldsvermutung. Sie werden für bestimmte Zwecke entwickelt und eingesetzt, erfüllen nützliche Zwecke und gelten solange als sicher, bis das Gegenteil bewiesen werden kann. "Die gegenwärtige Chemikalienpolitik ist ein Invivo-Experiment mit der menschlichen Gesundheit", erklärt Umweltberaterin Stark in ihrem Beitrag.

Gewisse Hoffnung, dass auf diesem Gebiet gegengesteuert werden wird, verbinden sich mit dem 2001 von der EU-Kommission vorgestellten "Weißbuch Chemie". Es sieht in Zukunft ein Zulassungverfahren für Chemikalien vor. Man rechnet damit, dass etwa 4.500 von ihnen - entweder bedenkliche Stoffe oder solche, die in Mengen von mehr als 100 Tonnen pro Jahr und Unternehmen erzeugt werden - untersucht und eigens bewertet werden müssen. Bei diesen Verfahren werden die Hersteller den Nachweis der Unbedenklichkeit ihrer Produkte erbringen müssen.

Klar, dass das Projekt umstritten ist. Die nachweislich steigende Zahl von MCS-Fällen sollte aber jedenfalls ein Argument für seine zügige Umsetzung sein.

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