Christus wieder gekreuzigt

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Der griechische Erzähler Nikos Kazantzakis, Schöpfer von "Alexis Zorbas", starb vor 50 Jahren.

Kein Bleiberecht für eine Schar unterstandsloser Flüchtlinge. Stattdessen eine herzlose Christengemeinde, die, angeführt von einem verbiesterten Kleriker, den Asylsuchenden erst den rechtmäßig erworbenen Ackergrund, dann in rufmörderischer Menschenjagd überhaupt das Existenzrecht im Dorf streitig macht. Das Abgefeimte dabei: Griechen vertreiben Griechen, und das mitten in Anatolien unter türkischer Herrschaft, im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, kurz vor der endgültigen Expatriierung der ionischen und Pontusgriechen durch Kemal Atatürks "Homeland"-Politik.

Ein Fanal unchristlicher Fremdenhetze wird in der "Griechischen Passion", dem wichtigsten Werk des großen griechischen Erzählers Nikos Kazantzakis, errichtet. Da wird, im weit ausgreifenden Erzählrahmen eines vom Dorf geplanten Laienpassionsspiels, nichts Geringeres zu einem massenpsychologisch aufschlussreichen Fremdenhass-Drama verdichtet als das Karfreitagsmotiv, wie es der Titel des Originals ankündet: "Christus wird wieder gekreuzigt." Weil er seine Ernennung zum Darsteller Jesu als Auftrag versteht, die Mitbürger zu Barmherzigkeit und Mitleid mit den Heimatvertriebenen zu bewegen, wird der Hirte Manolios von dem um seine Macht fürchtenden Priester Grigoris als Glaubensabtrünniger und Vaterlandsverräter in Acht und Bann gesetzt. Da Manolios von seinem Einsatz für die Flüchtlinge nicht ablässt, wird er schließlich der Blutgier des aufgehetzten Mobs ausgeliefert: Mitten in der Kirche findet die öffentliche Hinrichtung statt, so gut wie alle Einheimischen beteiligen sich an dem Fememord.

Hinrichtung in der Kirche

Ein grausiges Schauspiel, das den kurz darauf ausgebrochenen Genozid-Wahn in Zentraleuropa im Frühlicht eines Dorfes in Kleinasien vorwegdeutet. Und immer beziehen sich Handlung und Personen des Romans folgerichtig auf die - den zeitgemäßen Dorfverhältnissen angepasste - Passionsdramaturgie des Neuen Testaments.

Gleich ein ganzes Bündel jener konstanten Motive enthält die "Griechische Passion", die für Kanzantzakis' Erzählkunst bestimmend wurden: Das christologische Motiv eines Sühneopfers, das die Scheinheiligkeit einer frömmlerischen Gesellschaft, vor allem einer Kirche als Machtinstrument, gnadenlos bloßlegt. Die archaische Kraft einer Triebströmung, die, sind erst einmal alle Schleusen der Zivilisation durchbrochen, auch die brüchig gewordenen Dämme des Glaubens wegspült. Der für die Griechen prägend gewordene Kampf gegen die jahrhundertelange osmanische Vorherrschaft, der in dem kretischen Aufstandsepos "Freiheit oder Tod" (einem Epitaph für Kazantzakis' Freischärler-Vater) am sinnfälligsten gedeutet wird. Vor allem aber das in diesen Erzählwerken unablässig wiederkehrende Motiv des aufständischen Einzelgängers und einsamen Rebellen wider ein geistes- und herzensträges Kollektiv - ein für den Nietzscheaner Kazantzakis (der über den deutschen Philosophen 1909 seine Doktorarbeit verfasst hatte) zentrales Erzählmovens.

Patriarchalisch & rebellisch

Widerstandspflicht und Einzelgängerneigung waren dem 1883 in Kreta unter türkischer Herrschaft in eine streng patriarchalische griechische Rebellenfamilie Hineingeborenen gleichsam in die Wiege gelegt. Der Großvater war von den Türken geköpft worden und der Vater hatte den Knaben früh darauf vorbereitet, Mutter und Schwestern im Fall eines türkischen Überfalls auf ihr Haus zu töten. "Gott, mach einen Gott aus mir!", hatte der junge Niko auf dem Bauernhof seines Vaters in pueriler Blasphemie geschrieen (der Satz wird im Roman "Die letzte Versuchung" als Ausruf des jungen Jesus wiederkehren), und dem Studenten Nikos Kazantzakis erst in Athen, dann in Paris kamen Nietzsches Übermensch-Pathos und die Philosophie des élan vitale seines Lehrers Henri Bergson gerade recht. Bereits seine ersten Werke, eine Novelle und ein Drama, bescherten ihm Erfolge: er hatte darin erstmals die griechische Volkssprache Dimotiki verwendet.

Indes, neben der Literatur war Kazantzakis vielfältig anderwärts tätig: Er leitete als Generaldirektor das griechische Sozialministerium, führte nach dem Ersten Weltkrieg 150.000 griechische Flüchtlinge aus Südrussland und dem Kaukasus ins Mutterland zurück, wurde Rechtsprofessor in Athen und kurzzeitig, nach dem Zweiten Weltkrieg, auch Minister in der griechischen Regierung sowie Abgesandter der Unesco. Unermüdlich bereiste er die Sowjetunion, ließ sich von den Ideen des Kommunismus und Sozialismus begeistern - und wandte sich schließlich dem Fernen Osten und der Lehre Buddhas zu. Dazu noch Nietzsche und der byzantinische Spiritualismus des griechischen Christentums - Synkretismus, darauf machte im Zusammenhang mit Kazatzakis der ungarische Mythenforscher Karl Kerényi aufmerksam, bedeutet wörtlich nicht weniger als "kretische Vereinigung" verschiedenster religiöser Elemente.

Erst 1946 vollendete Kazantzakis jenen Roman, der ihm den Welterfolg als Schriftsteller bescherte: "Alexis Zorbas". Es ist das leichtfüßigste, heiterste Werk des Dichters, voll drastischer Naturbilder, archaischer Erzählmuster, naturmagischer Metaphorik. Tatsächlich ist "Alexis Zorbas", man merkt es beim Wiederlesen nach langer Frist, ein Schelmenroman von unverwüstlicher Gelassenheit. Die burleske Konfrontation von Tat- und Geistesmensch, von makedonischem Macho und vorsichtigem Intellektuellen entführt den Leser in einen Mikrokosmos voll dionysischer Lebenslust, aber auch in eine rückständige Welt des Patriarchats, mitsamt der zugehörigen Furcht vor der Fremdheit der Frauen. Die wird hier gleich zweimal mit dem Passionsmotiv verknüpft: Noch während des kretischen Ostertanzes stirbt die alte Chansonette Madame Hortense und wird erbarmungslos all ihrer Habseligkeiten beraubt. Und vor der Kirche, inmitten der johlenden Ostergemeinde, wird eine der Unzucht beschuldigte junge Witwe den atavistischen Dorfgesetzen zufolge gnadenlos massakriert.

Liebevoll, feinnervig gestaltet Kazantzakis diese Frauenbilder, ungleich zu etlichen anderen in seinen Romanen, in denen mitunter eine heutzutage unerträgliche Herablassung und ein maskuliner Vorranganspruch bei der Figurenzeichnung des weiblichen Erzählpersonals am Werk ist.

Alexis Zorbas, der Kreter

Der Vitalist Zorbas (von Anthony Quinn in Michael Cacoyannis' Verfilmung von 1964 meisterhaft gespielt) verfügt ohnedies über eine eigenwillige religionsgeschichtliche Deutungsgabe. Gottvater Zeus, ein Kreter, habe sich von allzu vielen Frauen zur himmlischen Befruchtung ermannen lassen: "Mit der Zeit haben die Frauen ihn völlig ausgepumpt. Er bekam Kreuzschmerzen, musste sich erbrechen und starb schließlich an Paralyse. Dann ist sein Nachfolger, Christus, gekommen, sah, was dem Alten zugestoßen war, und sagte:, Vorsicht vor Frauen!'"

Ähnlich unbekümmert um kanonische Lehren (eher an apokryphe Überlieferungen angelehnt) geht Kazantzakis mit seiner eigensinnigen Auslegung des Lebens Jesu in "Die letzte Versuchung" um. Mit ausschweifender Phantasie und der beeindruckenden Wort- und Bildmacht des byzantinisch beeinflussten, strikt antiklerikalen Erzählers wird hier eine Jesus-Gestalt beschworen, die sich anfangs voll verzweifelter Verstörtheit den in sie gesetzten Erwartungen zu entziehen sucht. Er ist selber Zimmermann, abschätzig beurteilt, da er Kreuze für jüdische Opfer der römischen Fremdherrschaft hergestellt hat. Von seiner Jugendliebe Magdalena, die sich als Gefallene unter seinem Einfluss zur Keuschheit bekehrt hat, will er nicht lassen, sie bleibt bis zuletzt in seinem Gefolge. Als er, nach der Enthauptung Johannes des Täufers, Liebe durch Gerechtigkeit zu ersetzen trachtet, versucht er sich vorübergehend als Welterlöser im Diesseits, ehe seine Passion beginnt. Indem er von Judas ausdrücklich verlangt, ihn seinen Häschern auszuliefern, reißt er das Gesetz des Handelns an sich. Eine "letzte Versuchung" sucht ihn in der Todesstunde, als Vision eines glücklichen irdischen Lebens mit Frauen und Kindern, heim. So gelangt Kazantzakis' Messias, der Menschensohn, von der (göttlichen) Fremdbestimmung zur (menschlichen) Freiheit der Selbstbestimmung.

Ohne Furcht und Hoffnung

1954 setzte der Papst "Die letzte Versuchung" auf den Index. Das machte Kazantzakis endgültig weltbekannt. Er antwortete mit seinem Buch "Mein Franz von Assisi". Darin wird der Heilige ermahnt: "Franziskus, mein Bruder, du befindest dich vor dem Papst, du musst mehr Ehrfurcht zeigen!" - "Ich befinde mich vor Gott", antwortete er laut, "wie soll ich mich Gott nähern, wenn nicht tanzend und singend? Mache mir Platz."

Nikos Kazantzakis überlebte 1957 nach einer Chinareise eine zu spät erkannte asiatische Grippe nicht. Er starb am 26. Oktober vor 50 Jahren in Freiburg im Breisgau. Sein Grab an der venezianischen Stadtmauer von Heraklion trägt die Inschrift: "Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei."

Der Autor lebt als Dramaturg und Publizist in Wien.

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