Credit Points für Epikur

Werbung
Werbung
Werbung

Über den Vormarsch der "life sciences", die Bestreitung des freien Willens und das Elend der universitären Philosophie. Ursula Pia Jauch

Möge Gott den Philosophen die Einsicht geben in dasjenige, was vor aller Augen liegt", heißt es beim späten Ludwig Wittgenstein. Gut gebrüllt, Philosoph, möchte man meinen. Aber was denn liegt "vor aller Augen"? Etwa dass der Mensch ein denkendes Wesen ist? Dass er die Exzellenz seiner spezifischen menschlichen Daseinsweise seinem cerebralen Ich verdankt und damit auch die Fähigkeit, sich von seinen anderen tierischen Mitgeschöpfen mit epochemachenden Denkleistungen abzuheben? Die noch immer gültige Selbstdefinition des Menschen lautet ja dahingehend, dass der Mensch ein "animal rationale" sei - also irgendwie mit den Füßen noch an der Tierheit festklebt, mit dem Kopf aber doch schon unter dem superben Baldachin einer göttlichen General-Über-Sicht wandelt.

Wieviel Geistesenergie, Tinte, Druckerschwärze haben die Philosophen nicht schon aufgebracht, um dem Denken und seinen barocken - oder freien? - Bahnen auf die Schliche zu kommen! Schließlich ist der Philosoph - wie Carl Spitteler einmal gesagt hat - "einer, der mit dem Denken hinter das Denken kriecht und dort, hinter dem Denken, mit dem Denken über das Denken nachdenkt" und, wenn er Glück hat, auch wieder einmal hervorkommt.

Und nun stehen wir da und fragen uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer, ob es das Denken, zumal das "freie", überhaupt gebe, oder ob das Denken nicht vielmehr ein Luftschloss der Philosophenzunft sei. In der Tat sind es ja die Naturwissenschaften, insbesondere die überall so werbewirksam hinaufgepushten "life sciences", die ganz selbstbewusst und fröhlich den alten Philosophenjob übernommen haben und neuerdings bestimmen, was Sein, Sinn oder gar Leben ist.

Messung der Hirnströme

Während bis vor nicht allzulanger Zeit diese Begriffe von den Philosophen austariert worden sind, so sind es neuerdings die forschen Experten der "life sciences", die diese Arbeit an sich gerissen haben und in das - übrigens alte - Horn stoßen: Es gibt keinen freien Willen, kein freies Denken - und schon gar nicht gibt es Freiheit. Es gibt nur Hirnströme, die sich mehr oder weniger gut messen lassen. Nur: Um von der Messbarkeit der Hirnströme zum Schluss zu gelangen, es gebe keine Denk-und Willensfreiheit, braucht man denselben metaphysischen Stoff, wie ihn einstmals die Philosophen brauchten, um die Denk-und Willensfreiheit zu statuieren.

Allerdings: Von einem ästhetischen oder gar anthropologischen Standpunkt her sind diejenigen, die auf die Freiheit des Denkens oder des Willens setzen, die, welche etwas von der Süße und von der Schönheit des Lebens in all seinen Möglichkeitsformen verstanden haben. Wer so handelt, als ob es Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe oder Glück wenigstens der Möglichkeit nach gäbe, der hat gewiss erfreulichere Lebensaussichten als derjenige, der sich in den Fatalismus einer biologischen Determiniertheit ergibt und jedes Ereignis - von der Geburt der eigenen Kinder bis zum Bundesliga-Fußballspiel - nur noch über die Ausschläge des Elektroenzephalographen wahrnimmt.

Schauen wir uns doch einmal um: Was sind denn die Signaturen des Zeitgeists? Ist nicht überall der einst emphatisch im Land des Konditionals angesiedelte Raum des Denkens in den Regulativ und in den Normativ gekippt - ins klar Geregelte, mit Vorschriften, klaren Abläufen und kalter Logik zu Exekutierende? Wo früher in der (auch akademischen) Philosophie ein buntes und freies Völkchen agierte, da haben wir heute graue Einheitskost: analytische Philosophie, Logik, Wissenschaftstheorie und gelegentlich anwendungsorientierte "Business Ethics"; alles auf ein paar einfache, übersichtliche Regeln reduzier-und in einen modul-normierten Studiengang applizierbar. Denken muss man da wirklich nicht mehr. Die Städte Pisa und Bologna mögen in Italien liegen, aber in der deutschsprachigen akademischen Philosophie ist man sehr "nach Italien" orientiert.

Die Eule der Minerva flieht

Mit vorauseilendem Gehorsam haben gestandene Ordinarien - nachdem sie schon zuvor die von den Angelsachsen herkommende "analytische" Einheitsphilosophie widerspruchslos geschluckt haben - sich auf eine Philosophie unter den Auspizien der "Credit Points" eingelassen. Heute wird nicht mehr diskutiert, ob Epikurs "Sentenzensammlung" eine so genannte epikureische Sinnenlehre enthält, oder ob Bernard Mandevilles "Bienenfabel" tatsächlich die Urschrift der modernen Wirtschaftsphilosophie ist; sondern nur noch darüber, wer von den beiden - Epikur oder Mandeville - einen halben "Credit Point" erhält, sofern diese alten Texte curricular überhaupt noch relevant sind. Worüber allerdings nicht die Philosophen, sondern die auf Wissenschaftsökonomie getrimmten Herrschaften von der Evaluationsabteilung zu befinden haben.

Weht also überhaupt noch philosophischer Geist in der Philosophie, namentlich in der universitären? Wird hier überhaupt noch "frei" - kritisch, experimentell, unbändig, leidenschaftlich, exzessiv, exzentrisch ... - gedacht? Oder ist die Eule der Minerva, das Wappentier der Philosophen, heute nicht zum Flüchtling geworden und dabei, das einstmalige Land der "Dichter und Denker" zu verlassen? Und zwar in Richtung des nicht nur von Nietzsche an den Philosophenhimmel gepinselten Freiheitsreichs der Künste. Um an das Wittgenstein-Zitat anzuknüpfen: Wenn Gott den Philosophen Einsicht in dasjenige gäbe, was vor aller Augen liegt, nämlich in die triste Verfassung der deutschen Gegenwartsphilosophie, die nur noch rechnen, aber nicht mehr scherzen oder gar sich in den Abgründen eines Paradoxons verlieren darf - dann tut vielleicht das Not, wovon Nietzsche in der "Fröhlichen Wissenschaft" fabuliert hat: nämlich eine andere Kunst als die Denk-Kunst, eine "spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert".

Die Autorin ist Professorin für Philosophie an der Universität Zürich.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung