"Da fliegen ethische Fetzen herum"

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Gemeinsame Werte - gibt es die noch? Unterliegt die pluralistische Gesellschaft nur einem Wertewandel oder ist sie dem Verfall ausgeliefert? Diesen Fragen ist der Grazer Soziologe Manfred Prisching beim diesjährigen Europäischen Forum Alpbach nachgegangen. Im folgenden Gespräch fasst er seine Antworten zusammen und wagt einen Blick in die Zukunft.

Die Furche: Pluralismus ist zum Schlagwort geworden. Die neue Gesellschaft wandelt sich permanent, hat Freiheiten wie nie zuvor. Welche Veränderungen fallen Ihnen als Soziologe besonders auf?

Manfred Prisching: Zum einen die sich verändernde Konsumgesellschaft. Wir haben heute ein derart luxuriöses Konsumniveau, dass ich mich frage, warum ständig gejammert wird. Für viele Leute um die 20 ist es selbstverständlich, ein eigenes Auto zu haben. Auch Winter- und Sommerurlaub muss schon drin sein. Zum anderen ist der Wunsch nach Selbstgestaltung immer stärker geworden. Das betrifft auch den Körper: Wellness und fernöstliche Praktiken liegen im Trend wie nie zuvor, sie sollen zu einer inneren Disposition in einer turbulenten Welt verhelfen. "Du musst in die Tiefe, ins schwarze Loch eindringen, um dort dein wahres Selbst zu entdecken", so die Botschaft. Das verlangt gewisse Praktiken. Da die meisten Leute mit den einheimischen Methoden aus der kirchlichen Sphäre nichts anfangen können, wenden sie sich fernöstlichen Lehren zu. Es ist spannend und exotisch, quasi-religiöse, spirituelle Methoden von buddhistischen Beständen zu übernehmen, obwohl das in Wahrheit ja nichts Authentisches ist. Die Methoden werden vielmehr unseren Bedürfnissen angepasst, eine Art Buddhismuskitsch. Das Herausschälen des Ichs aus der Tiefe ist etwas Sonderbares: sowohl Identitätssuche als auch eine Art abendländischer Machbarkeitsvorstellung. Das ist mit Managerseminaren vergleichbar: Die Teilnehmer wollen ganz schnell in zwei Tagen auf Schuss gebracht werden, auf dass sie noch ein bisschen leistungsfähiger sind.

Die Furche: Ist dieses Streben nach Selbstverwirklichung so neu?

Prisching: Es ist ein Phänomen, das seinen Ausgang an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert genommen hat. Die verbindlichen Netze und Systeme, die man als unhintergehbare Lebensmöglichkeiten akzeptieren musste, sind zunehmend verschwunden. Das gilt für die Einbettung in Dorfgemeinschaften, für religiöse Netze und ähnliches. Als Einwohner eines kleinen Ortes musste man irgendwo dabei sein, sonst war man draußen. Heute aber ist ein Jugendlicher aus einem Bergdorf nicht gehindert, wegzuziehen; irgendwie kann er sich durchschlagen und sich ein anderes Leben aufbauen. Das Wesen der modernen Welt besteht darin, dass man die Menschen flexibilisiert und ihnen Wahlmöglichkeiten eröffnet. Gleichzeitig erwächst damit eine Verantwortung, das eigene Leben und die Welt zu formen.

Die Furche: Sind sich die Eltern bewusst, was das eigentlich für die Erziehung bedeutet?

Prisching: Viele Eltern sind in keiner Wertewelt mehr zuhause, und die Kinder sind unterschiedlichsten Einflüssen, den Medien, verschiedenen peer groups ausgesetzt. Überall, wo moralische Einflussaspekte vorhanden sind, fliegen die ethischen Fetzen herum. Das Problem dabei: Ich habe nur noch Einzelbestände einer Wertewelt, die keine wirkliche Gestalt ergeben. Eltern können ihre Kinder zunehmend weniger beeinflussen, sie verbringen nicht mehr so viel Zeit mit ihnen. Man sieht sich noch abends zum Fernsehen, aber auch da treten andere Einflussinstanzen in den Vordergrund. Wie lange redet man etwa mit den Eltern, wie lange sieht man fern?

Die Furche: Inwieweit gehen da traditionelle Werte verloren?

Prisching: Bei einem Seminar hat mir eine Dame erzählt, dass ein Nachbarsbub nach der Schule oft bei ihr war, sich aber immer strikt geweigert hat, mitzuessen. Nach Monaten ist sie draufgekommen, dass der Bub nicht mit Gabel und Messer umgehen konnte und fürchterliche Angst hatte, sich zu blamieren. Es gibt immer mehr Familien, in denen nicht mehr gekocht, geschweige denn gemeinsam gegessen wird. Man schiebt die Fertigpizza rein, isst aber mit den Fingern. Dieses systematische Training - was der Umgang mit Messer und Gabel ja erfordert - findet nicht mehr statt. Ein Erziehungsdefizit, das bei solch banalen Dingen anfängt.

Die Furche: Kein Defizit sondern ein Fortschritt sind schärfere Urteile bei handgreiflichen Taten. Die g'sunde Watsch'n war ja früher gang und gäbe...

Prisching: Ja, der Bereich körperliche Unversehrtheit wird viel stärker thematisiert. Das fängt bei Grapschereien gegenüber Frauen an. Früher war es im herkömmlichen Wirtshaus noch selbstverständlich, dass man der Kellnerin auf den Hintern greift. Auch bei Kindesmissbrauch besteht eine erhöhte Sensibilität, und Missbrauchsopfer sind heute viel eher bereit, sich zu artikulieren. Früher hätte man so jemand in den Boden gestampft. Tatbestände wie Vergewaltigung in der Ehe sind moderne Tatbestände, die es früher in der Form nicht gegeben hätte, weil man das anders gesehen hat. Überall da ist die Sensibilität gestiegen. Das ist auf alle Fälle eine sehr positive Entwicklung.

Die Furche: Können Sie eine Prognose geben über zukünftige Veränderungen?

Prisching: Bestimmte Dinge können wir extrapolieren, zum Beispiel den Aufstieg der Frauen. Es gibt nicht den geringsten Grund, wieso es da einen Rückschlag geben sollte. Es wird sich nicht bewahrheiten, dass Frauen wieder zu Heimchen am Herd werden. Ich glaube aber, dass die Familie im klassischen Sinn der Erosion preisgegeben ist, eine Minderheitengeschichte wird. Das wird sich in Richtung Patchwork-Familie, Richtung sequentielle Monogamie verändern. Die Familie wird es zwar noch geben, aber die Besetzung des Personals ändert sich von Zeit zu Zeit. Hier bildet sich möglicherweise ein Kernbereich von 20 bis 30 Prozent, der das Traditionelle bewahrt. Der mit den Kindern wandern geht und sich nicht schämt, 25 Jahre mit demselben Partner verheiratet zu sein.

Das Gespräch führte Gertraud Eibl.

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