"Damit eine Spur zurückblieb von uns“

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Flüchtigkeit, falsche Namen, Sehnsucht nach neutralen Zonen: Themen von Patrick Modiano, der im Dezember den Literaturnobelpreis erhält.

Wer Patrick Modiano als Reisebegleiter wählt, der landet in Paris. Und zwar in einem Paris, das in unheimliches Dunkel gehüllt ist: Da streifen Menschen durch die Gassen, die man nur ab und zu im hellen Licht etwa eines Cafés sehen kann, die dann aber wieder verschwinden, manche für immer - und man kann sich nicht sicher sein, ob man je ihre richtigen Namen kannte.

Dunkel ist es auch in Bezug auf die Erinnerung. Denn Vergangenheit und Gegenwart sind zwar irgendwie miteinander verschmolzen, und dennoch kann man, was geschehen ist, als Ort nicht mehr aufsuchen - etwa weil ein ganzer Straßenzug verschwunden ist oder weil das dunkle Viertel nun saniert ist und hell: "Und selbst wenn die meisten Häuser dieselben waren, hatte man doch den Eindruck, vor einem ausgestopften Hund zu stehen, einem Hund, der dir früher einmal gehörte und den du geliebt hast, als er noch lebte.“

Es ist, als betrete man mit dem soeben auf Deutsch erschienenen Roman "Gräser der Nacht“ des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers die Summe seines Werkes, als wären Bilder, Atmosphären und Themen Modianos hier alle versammelt. In eine kleine, feine Kunstform gegossen. Die Flüchtigkeit der Begegnungen; die falschen Namen; die Erinnerung an Kreuzungspunkte, "wo du noch zögern kannst zwischen mehreren Wegen“; die Sehnsucht nach neutralen Zonen, "wo man in Sicherheit war vor Gefahren“, wo man keinen kennt und niemandem Rechenschaft schuldig ist, wo man die Orte vergessen kann, "die schuld daran waren, dass wir beide mit so unsicherem Schritt durchs Leben gingen“; die Frage nach der Identität des Gegenübers, die nicht beantwortet werden wird ...

Beweise der Existenz aufbewahren

"Noch heute bezweifle ich, dass meine Geburtsurkunde stimmt, und ich werde bis ans Ende aller Tage darauf warten, dass mir jemand die Karteikarte gibt, die verloren war und auf der mein richtiger Name steht, mein richtiges Geburtsdatum und die Namen und Vornamen meiner richtigen Eltern, die ich nie gekannt habe.“ Von diesem Ich-Erzähler weiß man nicht viel, außer dass er Bücher schreibt und früher vieles in Notizbüchern festgehalten hat. Der Grund dafür wird ihm erst später klar: "Ich brauchte Orientierungspunkte, Namen von Metrostationen, Hausnummern, Stammbäume von Hunden, als fürchtete ich, die Leute und Dinge könnten von einem Augenblick auf den anderen unsichtbar werden oder verschwinden, und ich müsste wenigstens einen Beweis ihrer Existenz aufbewahren.“ Auch sein Vorleben bleibt unerzählt, und es steht Lesern frei, Rückschlüsse zu ziehen daraus, dass er eine Liste über Häuser mit zwei Ausgängen führt und überall die Notausgänge ausspäht, für den Fall des Falles. Dass er auf Fragen noch nie antworten konnte. Dass er, wie er sagt, seit seiner Kindheit gelernt hat, seinen Mund zu halten.

Unschwer erkennt man die Themen aus Modianos Werken - und seinem Leben. "Ich bin ein Hund, der so tut, als habe er einen Stammbaum“, erzählte Modiano in seinem Buch "Ein Stammbaum“ (2005): "Ich wurde am 30. Juli 1945 geboren, in Boulogne-Billancourt, Allée Marguerite Nr. 11, als Kind eines Juden und einer Flämin, die sich im Paris der Okkupationszeit kennengelernt hatten. Ich schreibe Jude, ohne zu wissen, was das Wort für meinen Vater wirklich bedeutete, und weil es damals in den Personalausweisen vermerkt war. Bewegte Zeiten führen oft riskante Begegnungen herbei, so dass ich mich niemals als legitimer Sohn gefühlt habe und noch weniger als Erbe.“ Auf "dem Mist jener Besatzungsjahre“ sei seine Existenz gewachsen, meinte Modiano in einem Interview. Mit dem Vater, den er bald aus den Augen verlor, sprach er nicht über die Zeit, in der dieser gedemütigt und verfolgt wurde. Doch Modiano begann sich literarisch mit ihr zu beschäftigen. In seinem provokanten Romanerstling "Place de l’Ètoile“ (1968) zeigte er Frankreich, das sich gerne als Land der Résistance verstand, als Land der Kollaboration. Für "Dora Bruder“ (1998) wiederum recherchierte er das Leben eines jüdischen Mädchens, das 1941 untertauchte, dann aber doch nach Auschwitz deportiert wurde.

"Gräser der Nacht“, Modianos 28. Buch, führt ins Paris der 1960er-Jahre, an das sich der Erzähler versucht zu erinnern, indem er durch die Straßen zieht und in sein Notizbuch blickt. Ein marokkanischer Exilpolitiker wurde erschossen. Misstrauen gegenüber Studenten und ihren Verbindungen nach Marokko, Verhöre durch die Polizei, Warnungen, sich nicht involvieren zu lassen, schaffen eine Atmosphäre der Bedrohung. Selbst die Freundin bleibt eine Unbekannte mit mehreren Namen ...

Geschichten flüchtigen Lebens

Der unspektakulär und leise erzählte Roman arbeitet mit einer Spannung, die er nicht auflöst, nicht einmal als der Erzähler Jahrzehnte später die Polizeiakte einsehen kann. In dieser "Kriminalgeschichte“ gibt es mehr als ein Verbrechen zu enthüllen, beleuchtet werden Geschichten flüchtigen Lebens: "Auch mich überfällt ein seltsames Empfinden bei dem Gedanken an diese Lampen, die wir vergessen haben auszuknipsen, und an diese Orte, wo wir nie wieder hingekommen sind ... Es war nicht unsre Schuld. Jedesmal mussten wir schnell weg, und auf Zehenspitzen. Ich bin sicher, in dem Landhaus haben wir irgendwo ein Licht brennen lassen. Und wenn ich allein verantwortlich wäre für diese Unachtsamkeit oder dieses Vergessen? Heute bin ich überzeugt, dass es weder Vergessen war noch Unachtsamkeit, sondern dass ich im Moment des Aufbruchs immer absichtlich eine Lampe anknipste. Vielleicht aus Aberglaube, Unglück abzuwenden, und vor allem, damit eine Spur zurückblieb von uns, ein Zeichen, das besagen wollte, wir seien nicht wirklich fort und wir kämen irgendwann wieder.“

Gräser der Nacht

Roman von Patrick Modiano

Aus dem Französischen von Elisabeth Edl Hanser 2014. 174 Seiten, gebunden, E 19,50

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