Damoklesschwert der Armut

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Dem herausragenden Filmregisseur Indiens, Satyajit Ray, ist ein Schwerpunkt bei der diesjährigen Viennale gewidmet.

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Dem herausragenden Filmregisseur Indiens, Satyajit Ray, ist ein Schwerpunkt bei der diesjährigen Viennale gewidmet.

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Im Rahmen der Viennale ist heuer den ganzen Oktober lang im österreichischen Filmmuseum eine umfassende Werkschau des indischen Regisseurs Satyajit Ray zu sehen. Der indische Film hat lange Tradition, die aber zum Großteil eher mit Kommerz als mit Qualität zu tun hat. Etwa 27.000 Spielfilme entsprangen in den letzten 100 Jahren den Mühlen von "Bollywood", den Produktionsstätten bei Bombay; Indien ist der größte Filmproduzent der Welt - quantitativ.

Bereits 1899 drehte Harishchandra Bhatvadekar die ersten Kurzfilme. 1931, als die Bilder sprechen lernten, lösten sie nahezu ohne Übergangsphase die Stummfilme ab, gleichzeitig begann eine Periode der sozialkritischen Inhalte und des Protests. Bereits 1937 drehte Ardeshir Irani den ersten Farbfilm, und zu Beginn der fünfziger Jahre fand das erste internationale Filmfestival in Indien statt.

1955 begann Satyajit Ray ernsthafte Filmgeschichte zu schreiben mit "Pather Panchali" (Ballade vom Weg), dem ersten Teil seiner legendären Apu-Trilogie. Es war ein völliger Neubeginn, ein Bruch mit der damals bereits etablierten Unterhaltungsindustrie aus Musik, Tanz und Schmalz. Gedreht an Originalschauplätzen und mit Laiendarstellern wird durch ein fast lebendig anmutendes Kameraauge die berührende Geschichte einer verarmten Familie in einem kleinen bengalischen Dorf betrachtet, aus dem sich Eltern wie Kinder in die Großstadt träumen, in eine bessere Zukunft. Das aufregendste Erlebnis des Geschwisterpaares: die vorbeidampfende Eisenbahn aus der Nähe zu sehen und dabei die Ferne zu spüren, aus der sie kommt, und in die sie einen tragen könnte. Der Vater ist ein mehr oder weniger arbeitsloser Brahmane, der den Schwierigkeiten des Alltags mit Optimismus, kultivierter Bildung und ein wenig Naivität begegnet, die Tochter stiehlt zuweilen Früchte aus dem Garten reicherer Verwandter, um ihre geliebte uralte Großmutter damit zu verwöhnen, der Sohn Apu wird in die Schule geschickt, auf daß er es einmal besser habe, und die Mutter kocht jeden Tag Reis und macht sich Sorgen um das Morgen, das als Damoklesschwert der Armut und des Hungers ständig über ihnen schwebt.

Satyajit Ray nimmt sich seiner Figuren mit sehr viel Liebe und Gefühl an und zeichnet ihr Leben in ruhigen schwarz-weißen Bildern neorealistischer Ästhetik nach. 1956 und 1959 folgen die weiteren Teile der Trilogie "Apus Weg ins Leben": "Aparajito" (Der Unbesiegte) und "Apur Sansar" (Apus Welt).

Geboren 1921, stammt Ray aus einer Intellektuellen-Familie in Kalkutta. Der Vater starb im Jahr der Geburt seines Sohnes und die Mutter mußte Näharbeiten übernehmen, um das Haushaltseinkommen ein wenig aufzubessern und ihrem Sohn den Collegebesuch zu ermöglichen. Er studierte schließlich Wirtschaft, aber seine Liebe galt bereits klassischer Musik und dem Film, besonders Ernst Lubitsch, John Ford und Frank Capra. 1939 schaffte er aber trotzdem sein Diplom und begann Kunst zu studieren, um dann für eine Werbeagentur zu arbeiten, bis er sich nach dem durchschlagenden Erfolg von "Pather Panchali" gänzlich dem Film widmete. An die 30 seiner Filme sind in der Werkschau im Filmmuseum zu bewundern.

Das letzte Mal drehte er 1991, wenige Monate vor seinem Tod. "Agantuk" (Der Fremde) ist ebenfalls im familiären Umfeld angesiedelt. Ein Onkel, der vor Jahrzehnten in den Westen ausgewandert ist und jeden Kontakt zur Heimat abgebrochen hat, kündigt überraschend seinen Besuch an. Um die in Indien so wichtige traditionelle Gastfreundschaft nicht zu verletzen, wird er auch höflich aufgenommen, aber trotzdem mit mißtrauischen Blicken gemessen. Ist es wirklich der Onkel oder ein Schwindler? Und wenn er echt ist, was will er nach so langer Zeit? Man beginnt, Nachforschungen anzustellen und ihn Freunden zur Beurteilung vorzuführen. Es kommt zu einigen unliebsamen Zwischenspielen und nach einer überstürzten Abreise des Onkels doch noch zu einem überraschenden, schönen Ende.

Satyajit Ray hat mit seinem poetisch-realistischen Îuvre ein Gegengewicht geschaffen zum kommerziellen Mainstream seines Landes und die Kette der Filmgeschichte um einige echte Perlen bereichert.

Bis 31. Oktober Filmmuseum, Augustinerstraße 1, 1010 Wien Information: 533 70 54

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