Das "Ännchen von Tharau"

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Deutsche Kultur im Baltikum - zerstört und doch nicht vergessen

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Deutsche Kultur im Baltikum - zerstört und doch nicht vergessen

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Das "Ostpreußenlied, gesungen von einer russischen Deutsch-Lehrerin in Kaliningrad, das früher einmal Königsberg hieß. Nach dem längst verblichenen bolschewistischen Staatspräsidenten sollte die Stadt Immanuel Kants, Johann Gottfried Herders und E.T.A. Hoffmanns noch lange heißen müssen, wenn man ihren heutigen Zustand sieht. Strafweise!

Wo einst das Königsschloss stand, wurde das "Haus der Räte" hingeklotzt. Nie vollendet, nie verwendet, aber unverrückbar einbetoniert wie anderswo die Flakbunker. Und doch: Das Grab Kants steht wie einst an der Mauer des Domes, sein Denkmal vor der Universität. Alles ein bisschen aufgefrischt, nachgemacht nach Kriegsschäden. Man denkt an Weimar 99, als vom Gartenhaus Goethes ein Duplikat geklont wurde: Denkanstoß zur Frage "Was ist echt, was authentisch ?" Die Deutschlehrerin, die ihr karges Gehalt als Fremdenführerin ergänzt, singt nicht nur das Ostpreußenlied ohne Scheu, sie weiß auch drei Gedichte von Agnes Miegel, der großen ostpreußischen Dichterin.

Die große Völkerwanderung zwischen 1939 und 1945, die von zwei einander werten Verbrechern ausgelöst wurde und von Massenmorden, Massen-Deportationen, Flüchtlingsströmen bis zum Bevölkerungs-Austausch reichte, sie hat auch von der Einwohnerschaft Kaliningrads nur wenig "Ureinwohner" übrig gelassen. Wertvolle Bausubstanz, die den Krieg überdauert hatte, wurde beseitigt. Wie die Sowjetrussen auch nach der Eroberung von Danzig die beschädigte Altstadt nochmal sprengten, um zu beseitigen, was an die deutsche Zeit erinnerte. Die Polen bauten es dann wieder auf.

Bedrohlicher Nachbar Auffallend hartnäckig forschen die Neubürger Kaliningrads nach der Vergangenheit ihres Landes, in dem sie Wurzeln schlagen mussten. In Stettin und Danzig ist es nicht anders als in den baltischen Staaten. Da kommt vieles zutage, woran man anknüpfen kann. Reden wir nicht von Prozenten der verschiedenen Nationalitäten. Hier haben immer schon viele Völker gelebt und sie mehr oder weniger gut miteinander ausgekommen. Grenzen waren eher religiös formuliert: von den heidnischen Pruzzen angefangen. Später lebten katholische Polen und Litauer zwischen orthodoxen Russen, protestantischen Letten und Deutschen, war der baltische Adel dem Zarenhof dienstbar, aber deutsch geprägt. War nicht vielleicht die Hanse das Band, dem sich alles irgendwie fügte ? Die Kette stolzer Handelsstädte rund um die Ostsee, die den Waren-Austausch über See und weit in die jeweiligen Hinterländer in Gang hielten zum allgemeinen Wohlstand? Sie sind es auch, die sich jetzt am schnellsten erholen. Das betrifft das äußere Stadtbild ebenso wie einen langsam wachsenden Wohlstand und ein "vorauseilendes" Selbstbewusstsein.

Die jungen Leute scheinen knapp ein Jahrzehnt nach der neuerlichen Unabhängigkeits-Erklärung der drei baltischen Staaten eine hoffnungsvolle Normalität zu leben. Und nicht daran zu denken, dass der große Nachbar im Osten immer noch lüstern Ausschau hält wie die Katze vor dem Mauseloch.

Deutsche Reiseführer, selbst solche jüngsten Datums, verschweigen immer noch ängstlich, dass der Hitler-Stalin-Pakt nicht nur Mord und Deportation durch Deutschland zur Folge hatte. In den betroffenen Ländern spricht man sehr offen darüber, dass sowohl 1940/41, als auch nach dem neuerlichen Einmarsch der Roten Armee 1944/45 in jedem der drei Länder zigtausende Menschen auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Nicht ohne Grund wehen alljährlich am 14. Juni die Fahnen auf Halbmast oder mit Trauerflor. Allein 1940 wurden 35.000 Letten nach Sibirien verschleppt. Und die oft gepriesene Industrialisierung durch die UdSSR wurde zur Umweltkatastrophe, an der die Länder immer noch leiden, wenn auch die vielen grünen Wiesen, die Rinderherden und die auffallend zahlreichen Störche einen anderen Eindruck vermitteln möchten.

Die engen Beziehungen des St. Petersburger Hofes zum Baltikum sind Geschichte. Ja, im 18. und 19. Jahrhundert stellte der baltische Adel - reich, hoch gebildet und grenzenlos arrogant - die tüchtigsten Offiziere und Beamten am Zarenhof. Eine der herausragenden Persönlichkeiten kann man im angestammten Ambiente besuchen: Ernst Johann Biron (1690-1772), Herzog von Kurland auf Schloss Rundale (Ruhental) in Lettland. Biron war der Günstling der Zarin Anna Iwanowna, die 1730 zur Macht kam. Er wurde ihr engster Berater und mit hohen Ämtern ausgestattet - bis er 1739 Herzog von Kurland wurde. Nach dem Tode der Zarin wurde er gestürzt und nach Sibirien verbannt. Unter Zarin Katharina II. wurde er erneut in seine Ämter eingesetzt. Kein Zweifel, dass er auf dem Höhepunkt seiner Karriere europaweiten politischen Einfluss hatte.

Spuren alten Adels Das Schloss Rundale, das abwechselnd mit Mitau seine Residenz als Herzog von Kurland war, wurde sorgsam restauriert und mit Bildern und Mobiliar aus der Zeit zum Museum gestaltet. Der jüngste, heute in München lebende Spross der Familie konnte dabei helfen und Dokumente zur Familiengeschichte beisteuern. So findet man im Baltikum noch vielerlei Spuren des alten Adels - und seien es die oft übertrieben prunkvollen Epitaphe in den Kirchen. Noch deutlicher bringt sich das einst wohlhabende Bürgertum in Erinnerung. Mag die Stadt Memel (heute Klaipeda) mit ihren im Raster-System erbauten Häuserblöcken noch grau wirken, mag man in der Innenstadt keine Kirchen mehr finden, so steht doch noch das Haus, in dem die demütigende Begegnung der preußischen Königin Luise mit Napoleon stattfand. Und vor allem: am Theaterplatz steht der Brunnen, der dem hier geborenen Dichter Simon Dach gewidmet ist. Die (erneuerte) Metallfigur des Ännchens von Tharau erinnert an sein bekanntestes Gedicht, das für die Touristen (oder von ihnen) immer aufs neue angestimmt wird. Was in Memel an Kirchen fehlt (bewusst zerstört), gibt die Hauptstadt Vilnius (Wilna) reichlich. Hier demonstriert das katholische Land seinen Glauben in Gotik und Barock. Man sollte allerdings auch die orthodoxe Heiliggeist-Kirche besuchen, die ebenfalls ganz barock prunkt. Und darf nicht vergessen, daß Wilna einst das "Jerusalem Litauens" war, mit seinen weisen Rabbis ein geistiges Zentrum des Judentums - bis zur Vernichtung, die in beschämender deutsch-litauischer Kooperation geschah.

Wie sich aber katholisches Nationalbewusstsein gegen die russische Überfremdung zur Wehr setzte, lässt sich am "Berg der Kreuze" ablesen. Was sich zuerst wie eine Orgie des Kitsches ausnimmt, ist aus der Nähe ergreifend: Kilometerweit von der nächsten menschlichen Siedlung entfernt, sind ist ein Hügel geradezu überschüttet mit Holzkreuzen aller Größen. Kruzifixe aller Art sind ohne erkennbare Ordnung aufgestellt. Diese Fülle wurde von den Besatzern immer wieder abgeräumt - und immer wieder neu angereichert. Wenn jeder Teilnehmer einer Prozession ein Kreuzchen mitbringt, kommt schon etwas zusammen.

Das protestantische Riga lässt mit seinem lebhaften Treiben in der Innenstadt, mit Geschäften und Gaststätten aller Art kaum erkennen, dass heute die russische Bevölkerung die Mehrheit hat. Offenbar erfreuen sich alle der neuen Freiheit und des langsamen Aufblühens der Lebensqualität. Man lebt mit den Zeugen der früheren Jahrhunderte - von den Ritterorden ebenso geprägt wie später von Luthers Reformation. Man lebt aber auch mit dem "Denkmal der lettischen Schützen", die nach der Oktoberrevolution für eine Räterepublik kämpften und ein erzenes Andenken im stalinistischen Berserker-Stil bekamen. Aber das "Freiheitsdenkmal", das an die erste Loslösung von Russland nach dem Ersten Weltkrieg erinnert, hat sich als hohe, schlanke Stein-Stele, gekrönt von einer Frauengestalt, bis heute erhalten.

Die Geschichte will als Ganzes angenommen sein. Dazu gehören die Straßen mit prächtigen Jugendstil-Villen, die jetzt zügig restauriert werden. Bekanntester Architekt: Michail Eisenstein, der Vater des kommunistischen Filmregisseurs. Der Dom (Grundsteinlegung 1211) gilt als der größte des Baltikums. Daneben das Herder-Denkmal, das an die Jahre 1764-69 erinnert, als der große Theologe und Humanist hier an der Domschule lehrte. An Richard Wagners frühe Rigaer Jahre erinnern eine Straße und ein Konzertsaal. Auch die estnische Hauptstadt Tallin (Reval) war einmal vorwiegend deutsch geprägt, zugleich aber ein internationaler Treffpunkt. Das prächtig restaurierte Schwarzhäupter-Haus gehörte einst der Bruderschaft, die sich den dunkelhäutigen heiligen Mauritius zum Schutzpatron gewählt hatte. Es waren unverheiratete ausländische Kaufleute, die hier ihre Bleibe und ihren Treffpunkt hatten, Männer aus vielen Hansestädten rund um die Ostsee. Nun prangen an der prächtig restaurierten Fassade wieder in blendender Goldschrift die alten frommen Sprüche: "Helf Godt all Zeidt - Godt ist mein Hulf ..."

Freude an der Freiheit Ein Kontrast dazu die Alexander-Newski-Kathedrale, ein eher protziger als andachtsfördernder Bau aus der Zeit des letzten Zaren Nikolai II. Fünf Zwiebeltürme auf dem alten Domberg, Ausdruck russischer Oberhoheit, die man heute nicht mehr recht ernst nehmen möchte. Der Laie wundert sich, dass die drei baltischen Staaten trotz vieler gemeinsamer Schicksalsschläge nie zu einer Einheit gefunden haben. Die historischen und kulturellen Unterschiede sind zu groß. Auch sprachlich können sie sich nur auf deutsch, russisch oder englisch verständigen. Selbst die Esten verstehen die verwandte finnische Sprache nicht von selbst. Aber natürlich ist das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft sehr lebendig. Man könnte sich kulturell sogar auf die ärgsten Zeiten der Sowjet-Herrschaft berufen. Wer etwa in den siebziger Jahren Präsentationen von Kunst aus der Sowjetunion im Ausland besuchte, fand ohne große Mühe die baltische Eigenständigkeit heraus, die sich vom Sozialistischen Realismus deutlich unterschied.

Heute reist man kreuz und quer über die Ostsee, tauscht Güter und Gedanken aus - sofern sich nicht wieder einmal eine russische Zollgrenze querlegt.

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