Das Böse im Buch oder: Literatur und Sünde

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Im Alltagssprachgebrauch ist die Sünde gegenwärtiger denn je. Der ursprüngliche theologische Gehalt des Begriffs ist indes kaum noch präsent. Wie nähert sich die Literatur dem Thema an?

Vor 50 Jahren mussten wir Volksschüler im Religionsunterricht des Herrn Pfarrer seitenweise den Katechismus lernen und auswendig aufsagen können. Wir mussten als Grundlage die sieben Todsünden wissen: Stolz, Trägheit, Geiz, Neid, Zorn, Unkeuschheit und Völlerei. Die Zehn Gebote und ihre Bedeutungsfelder waren für die Beichte wichtig. Dem gegenübergestellt lernten wir als positive moralische Werte die drei göttlichen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) und die vier Kardinaltugenden (Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit). Der Stellenwert des Religionsunterrichtes und die Autorität des Herrn Pfarrer waren groß. Wir gingen mit Unbehagen, aber selbstverständlich, zur Beichte, wir besuchten am Sonntag die Heilige Messe und empfingen die Kommunion.

Die Strafen bei Vergehen waren härter und die Anforderungen von Autoritäten wurden weitgehend erfüllt. Als Mädchen aus dem Dreiländereck des oberen Mühlviertels musste ich als Achtjährige einen einstündigen Weg durch den Wald auf mich nehmen, um zur Kindermesse in aller Herrgottsfrüh zur Kirche in den nächst gelegenen Ort Schwarzenberg zu gelangen. Dass man drei Stunden vor dem Empfang der Kommunion nüchtern sein musste, war damals eine Selbstverständlichkeit.

Defizit-, Steuer- und Alkoholsünder

Wie die meisten Mädchen zu dieser Zeit erfüllte ich voll und ganz diese Anforderungen. Trotzdem, moralische Vergehen beging auch ich - eines davon wurde mir erst einige Jahre später als solches bewusst. Perlen faszinierten mich, und so kam ich auf die Idee, Flussmuscheln aus der Großen Mühl zu tauchen, sie in der Sonne zu trocknen und eine Perle darin zu suchen. Innerhalb von kürzester Zeit hatte ich eine Schatulle voll davon. Der Gedanke des Umweltschutzes war im Religionsunterricht damals kein Thema. Ich fand als Kind an diesen Grausamkeiten nichts Verwerfliches.

Die zunehmende Säkularisierung lässt den ursprünglichen katholischen Begriff Sünde altmodisch und auch problematisch erscheinen. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird er jedoch viel lockerer und häufiger verwendet als jemals zuvor: für vieles, was von der Norm abweicht, gegen Regeln verstößt oder unvernünftiges Handeln bezeichnet. Wir haben in der EU Defizitsünder. Wir sprechen von Steuersündern, Verkehrssündern, Alkoholsündern, sündhaft teurem Service und Diätsünden - alles Dinge, die als falsch angesehen werden und gegen Normen verstoßen, aber nicht im ursprünglich theologischen Sinn verstanden.

Seit jeher bietet die Sünde für die Literatur ein moralisches Versuchsfeld. Die meisten Romane der Gegenwart unternehmen dies in einer säkularisierten Form. Der Begriff "Sünde" wird heutzutage vor dem Hintergrund der Gesellschaft individuell gedeutet.

Schlangengrube der menschlichen Seele

Der Franzose Julien Green ist wohl einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts, die sich explizit in ihrem Schreiben zur christlichen Lehre bekennen - beispielsweise in einem seiner wichtigsten Werke, "Leviathan" (1929, deutsch 1930). Er lässt seine Leser einen Blick in die Schlangengrube der menschlichen Seele werfen. Er lotet die tiefsten existenziellen Abgründe aus. Der Mensch hofft vergeblich auf eine Erlösung im Diesseits. In seinen Tagebüchern betreibt er gnadenlose Introspektion und hält gleichzeitig seinen Mitmenschen den Spiegel vor: "Die Dummheit hat etwas ebenso Abstoßendes wie die körperliche Hässlichkeit. Sie ist auch ebenso sichtbar." (Tagebücher, 8. Mai 1926).

Die Österreicherin Lilian Faschinger wendet in ihrem Roman "Magdalena Sünderin" (1995) die Beichte als Thema und literarisches Verfahren an. Die junge, auffallend schöne Kärntnerin Magdalena Leitner entführt einen Priester und zwingt ihn, gefesselt und geknebelt, ihre (Tod-)Sünden anzuhören. Sie ist eine Mörderin aus Leidenschaft, hat sieben Männer auf dem Gewissen und verführt letztlich auch den Priester. Dieser wird ihr Komplize, allerdings durch das Eingreifen der Polizei nicht ihr achtes Mordopfer. Er wird aus Magdalenas Fängen befreit, was ihm aber nicht ungeteilte Freude bereitet.

Missbrauch im Knabenseminar

Der Priester und seine Sünden sind in einigen modernen Romanen das Thema: So auch bei Evelyn Schlags "Die göttliche Ordnung der Begierden" (1998), der von den verbotenen Lieben eines Priesters erzählt. Er leidet unter seinen Fehltritten, die schwere Selbstzweifel nach sich ziehen. Wolfgang Bergmann greift in seinem Roman "Die kleinere Sünde" (2010) das in jüngster Zeit heftig diskutierte Problem der Pädophilie auf: Der Journalist Norbert Kranzel deckt lange zurückliegende Missbrauchsfälle in einem Knabenseminar auf. Täter ist ein Religionslehrer und späterer Kardinal.

Der Büchner-Preisträger Martin Mosebach ist ein Vertreter der explizit konservativen Dogmatik der katholischen Kirche, der beispielsweise für den alten Ritus der Messe eintritt. Seine Literatur beschäftigt sich vor diesem religiösen Hintergrund mit aktuellen Problemen der Gegenwart, zuletzt in "Was davor geschah" (2010). "Die eigene Lebenswelt ist die Voraussetzung für eine souveräne Beherrschung des Stoffes", sagt er in einem Interview. Gegen das Chaos der Welt setzt er seine Literatur, mit der Absicht, Ordnung zu schaffen. Er verordnet sich Schreiben als "Exerzitium", was bedeutet, täglich ein Stück Text mit der Hand niederzuschreiben. Schreiben ist für ihn ein spiritueller Akt. Mosebach ist eine singuläre Erscheinung in der Gegenwartsliteratur, weil er sich mit dem katholischen Erbe am intensivsten und radikalsten auseinandersetzt.

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