Das Denken der Wiener Moderne

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Der britische Germanist, Leiter des Centre for German-Jewish Studies und Karl-Kraus-Biograph Edward Timms, hat sich intensiv mit den geistig-kulturellen dynamischen Entwicklungen von den letzten Jahren der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg befasst.

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Der britische Germanist, Leiter des Centre for German-Jewish Studies und Karl-Kraus-Biograph Edward Timms, hat sich intensiv mit den geistig-kulturellen dynamischen Entwicklungen von den letzten Jahren der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg befasst.

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Der Großteil des geistigen Lebens des zwanzigsten Jahrhunderts wurde in Wien erfunden." Diese Proposition wurde vor 15 Jahren in London bei einem Symposium in London ("Fin-de-siècle Vienna and its Jewish Cultural Influences") zur Debatte gestellt. Der Ausspruch stammt indirekt von George Steiner, der den jüdischen Anteil an dieser Entwicklung betonte.

Diese These wurde aber von dem Kunsthistoriker Ernst Gombrich entschieden abgelehnt. Zu behaupten, der Großteil des modernen geistigen Lebens sei in Wien entstanden, wäre gleichbedeutend mit der Behauptung, der Großteil des Mondes bestünde "aus grünem Käse". Mit Recht warnte er vor den Übertreibungen von Kulturhistorikern. Vor allem kritisierte er die geläufige Vorstellung vom "jüdischen Einfluss" auf das kulturelle Leben Wiens. Solche Begriffe erinnerten ihn an die Propaganda der Nazi-Zeit.

Gombrich sprach mit der Autorität eines großen Gelehrten, der sich auf eigene Erfahrungen im Wien der Zwischenkriegszeit beziehen konnte. Aber auch die Position George Steiners hat etwas für sich. Denn im Wien des frühen 20. Jahrhunderts entwickelte sich in der Tat eine kulturelle Revolution, die weltweite Konsequenzen gehabt hat. Und die Konsequenzen wären weniger gravierend gewesen, wenn so viele Vertreter jener Revolution nicht jüdischer Herkunft gewesen wären und deshalb - wie Gombrich selber -Ende der Dreißigerjahre ins Exil gehen mussten.

Zionisten, Atonale, Feministinnen

Um die sonderbare Dynamik der Wiener Moderne zu erklären, entwarf ich vor Jahren ein Diagramm der Vienna Circles aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Das Diagramm erschien zunächst im ersten Band meiner Karl-Kraus-Biographie und wurde später mit kleinen Verbesserungen mehrmals nachgedruckt.

Die Stärke der Wiener Avantgarde lag in ihrer inneren Struktur. Besonders bekannt ist der von Moritz Schlick angeführte Wiener Kreis, der Mitte der Zwanzigerjahre eine "wissenschaftliche Weltanschauung" zu begründen versuchte. Darüber hinaus lässt sich die ganze Struktur der Wiener Moderne als Gefüge solcher Kreise darstellen. Jede der führenden Persönlichkeiten versammelte ihren eigenen Kreis von Adepten um sich: Herzls Zionisten, Wagners radikale Architekten, Viktor Adlers Sozialdemokraten, Schnitzlers eher lockerer Zirkel von Literaten. Zur selben Zeit belebte Mahler die Wiener Oper, vermittelte Schönberg seinen Schülern die Grundlagen der Atonalität, versammelte Rosa Mayreder die Feministinnen um sich, lancierte Genia Schwarzwald mit der Hilfe von innovativen Geistern ein Realgymnasium für Mädchen.

Oft handelte es sich im wörtlichen Sinn um Kreise: Gruppen, die sich zu einer bestimmten Zeit (Freuds Mittwochabende) an einem bestimmten Ort (Kraus' Kaffeehausrunde im Café Pucher) um einen Tisch versammelten. Wären die Kreise ausschließlich auf sich selbst bezogen gewesen, hätten sie nie weltweite Resonanz erreicht. Erst ihre enge Verbindung untereinander unterscheidet die Wiener Kreise von elitären Gruppen in anderen Städten.

Um die sonderbare Dynamik dieser Kreise zu verstehen, müssen wir uns auch die Räume vorstellen, in denen diese Gruppen regelmäßig zusammentrafen. Am bekanntesten ist das Haus in der Berggasse, von dem die psychoanalytische Bewegung ausgegangen ist. Es war eine Privatwohnung - die Wohnung der Familie Freud. Noch heute staunt man über die großartige Raumplanung der Gründerzeit nach dem Abbruch der Altwiener Befestigungsanlagen. In der Nähe der Ringstraße gewannen solche neuerbauten Wohnhäuser großzügige Dimensionen. Das Haus im Alsergrund, Berggasse 19, wurde 1889 erbaut, und zwei Jahre später zog die Familie des jugendlichen Arztes ein.

Brücken zu einer besseren Welt

Hier begann im Jahre 1902 eine kleine Gruppe von gleichgesinnten Kollegen abends einmal in der Woche zusammenzutreffen. Es war die Psychologische Mittwoch-Gesellschaft, die später als Wiener Psychoanalytische Vereinigung weltbekannt wurde. Nicht nur wissenschaftliche, sondern auch geistesgeschichtliche Themen waren auf der Tagesordnung: die Novellen von Conrad Ferdinand Meyer, Nietzsches Moralphilosophie, Wagners Musik. Diese künstlerischen Themen alternierten mit klinischen Referaten über Inzest, Sadismus, Impotenz und Verfolgungswahn. Freud selber sprach über die Technik der "freien Assoziation" - und die Gruppe bildete in der Tat eine freie Assoziation, wo man jede konventionelle Weisheit in Frage stellen konnte. Seit den Tagen von Sokrates hat selten eine Gruppe mit solcher Konsequenz die Geheimnisse des Eros diskutiert - hier aber anhand von neuen Begriffen: Komplexe, Inversion, Sublimierung, Verdrängung und Übertragung.

Ein anderes Beispiel ist der heute weltbekannte Wiener Kreis der Philosophen um Moritz Schlick. In einer polarisierten ideologischen Landschaft geriet die Philosophie des Wiener Kreises zu einer Waffe im Kulturkampf gegen die reaktionären Kräfte von Klerikalismus und Faschismus. So wurde die Sache von dem linken Flügel des Kreises aufgefasst, der von Otto Neurath geführt wurde. Auch liberale Figuren wie Moritz Schlick verstanden den Ernst der Lage. Aber für ihn waren die philosophischen Auswirkungen des Kreises wichtiger: die Wende zum Positivismus. Wie bei Freud begann auch hier eine weltweite Entwicklung in einem kleinen Raum, dem Café Josephinum in Wien 9.

Es war vor allem Neurath, der die Wirkung des Wiener Kreises ausweitete - durch die Öffentlichkeitsarbeit, die er im Auftrag des Roten Wien unternahm. Damals betrieb die Wiener Landesregierung eine dynamische Kulturpolitik (eine Tradition, die auch heute fortgesetzt wird). Aufgrund seiner Erfahrungen bei den Siedlungsprojekten der Stadt Wien gründete Neurath 1924 das bahnbrechende Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum. Für das Museum wurden hier im Rathaus größere Räume zur Verfügung gestellt. Es wurde zu einer Triebkraft der Kommunalpolitik, denn die Ausstellungen zielten auf wirtschaftliche Modernisierung und die Überwindung von Klassengegensätzen.

Doch es kam anders. Das Bild ändert sich vor unseren Augen, wenn wir uns an die historischen Ereignisse erinnern, die einen furchtbaren Rückschlag gegen das moderne Denken brachten. Aber gerade durch den Einfluss jener - vorwiegend jüdischen - Flüchtlinge aus dem deutschen Sprachraum kam es in England und den Vereinigten Staaten zu einer radikalen Modernisierung des Geisteslebens. Durch deren Aktivitäten im Ausland gewannen die Ideen der Wiener Moderne eine weltweite Resonanz. Für die Nachgeborenen hat jene Generation doch Brücken gebaut zu einer besseren Welt.

Die Serie "Enzyklopädie des Wiener Wissens" erscheint in Kooperation mit den Wiener Vorlesungen

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