Das Drama des gestressten Kindes

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Chronischer Stress prägt nicht nur den Alltag der meisten Erwachsenen, sondern auch jenen von immer mehr Kindern, weiß Leonhard Thun-Hohenstein, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Salzburg. Pünktlich zum Schulbeginn wird der Stresspegel in den Familien einmal mehr deutlich steigen. Ein Gespräch über ruhelose Kinder, belastete Eltern - und die Untätigkeit der Politik.

DIE FURCHE: Dass Kinder heute unter enormen Belastungen stehen, scheint common sense zu sein. Mit welchen Formen von Stress werden sie konkret konfrontiert?

Leonhard Thun-Hohenstein: Vorab muss man festhalten, dass es ohne Stress keine normale Entwicklung gibt. Stress gehört zum Leben dazu: Alle Aufgaben und Anforderungen, die die Welt an uns stellt, sei es in Beziehungen, sei es in Entwicklungsaufgaben, erzeugen Stress. Diese Stressbewältigung trägt zur Entwicklung von Hirnstrukturen und der eigentlichen Persönlichkeit bei. Das Problem beginnt dann, wenn die Welt zu viel von uns verlangt und uns zu wenig Pausen und Ruhezeiten gönnt - das gilt für einzelne Erwachsene und Kinder wie für gesamte Familien. Wenn heute Zeitungen über die große "Errungenschaft“ schreiben, dass Firmen ihren Mitarbeitern außerhalb der Arbeitszeit keine Emails mehr auf ihre Handys weiterleiten, dann wird das Selbstverständliche zum Besonderen.

DIE FURCHE: Freizeit muss also Freizeit bleiben.

Thun-Hohenstein: Ja, zum Glück beginnt hier ein Umdenken, denn der menschliche Organismus braucht den Rhythmus von Ruhe- und Arbeitszeiten. Doch diese Rhythmen werden sträflichst vernachlässigt. Nur mehr ein Drittel der Kinder haben regelmäßige Essenszeiten und regelmäßige gemeinsame Familienzeiten. Diese fehlenden Rhythmisierungen und Ritualisierungen erzeugen Stress: Es tritt Orientierungslosigkeit auf, eine ewige Gehetztheit, man ist immer hinter irgendetwas her. Du bist heute als Kind nur mehr jemand, wenn du etwas leistet. Und als Erwachsener bist du heute nur mehr jemand, wenn du gut verdienst. Das ist die heutige Maxime. Du bist heute nicht mehr jemand, weil du du bist.

DIE FURCHE: Michael Endes Roman "Momo“, in dem Zeitfresser den Kindern ihre Zeit stehlen, wird heuer 40 Jahre alt. Welche Zeitfresser erkennen Sie heute?

Thun-Hohenstein: Der Hauptzeitfresser ist die Mehrfachbelastung der Eltern, ihre Kinder, den Haushalt und den Beruf - womöglich sogar noch mehrere McJobs - unter einen Hut bringen zu müssen. Der zweite ist, dass viele Eltern das Gefühl haben, sie müssten Kindern ununterbrochen etwas bieten. Die Kleinen kommen ganz früh in Kurse und Trainings, obwohl sie keinen besonderen Förderbedarf haben. Dieser Freiraum zur Eigenentfaltung und zur Entdeckung der Welt ohne die ununterbrochene Anleitung der Erwachsenen fehlt den Kindern heute enorm. Eigentlich gibt es ihn nur noch in den Computerwelten: Hier sind die Kinder allein, da mischen sich die Erwachsenen nicht ein, da können Kinder sich ausleben.

DIE FURCHE: Welche Möglichkeiten gibt es für Eltern, mehr Ruhe ins Leben ihrer Kinder zu bringen?

Thun-Hohenstein: Sie sollten versuchen, qualitativ hochwertige Zeit mit ihnen zu verbringen: Handy abschalten, Ruhe, Ungestörtheit, Zeit für Beziehung. Etwas tun, was alle gleichermaßen beglückt, wo ein Miteinander entsteht, ein Gefühl von Gemeinsamkeit, gegenseitiger Wahrnehmung und Unterstützung. Das kann eine halbe Stunde täglich sein, wirkt aber wie eine Insel, die ausstrahlt. Zweitens sollte man den Kindern Freiräume einräumen, wo sie selbst etwas entdecken können. Klaus Hurrelmann spricht vom "Triple A“ der Erziehung: Anregung durch eine entsprechende Umgebung, Anleitung, wie die Kinder eigenständig diese Umgebung nutzen können, und Anerkennung dafür, dass sie das tun - nicht dafür, was genau oder wie sie es tun. Es geht eben nicht um die Leistung, die herauskommt, sondern darum, dass sie sich überhaupt der Entdeckung der Welt widmen. Ich persönlich füge noch ein viertes A hinzu: Ohne Auseinandersetzung ist Entwicklung nicht möglich. Deshalb ist es wichtig, gemeinsam mit Kindern klare Rahmenbedingungen auszuhandeln, innerhalb derer die anderen drei A möglich sind. Wenn es dann zu Konflikten kommt, sollte man diese in entsprechend guter Art und Weise austragen. Wenn ich weiß, wie ich Konflikte lösen kann, dann kann ich mich bewähren in der Welt: beim nächsten Einkauf, beim nächsten Freund, beim nächsten Chef, in der nächsten Krise. Wenn ich das nicht lerne, kommt es zur Gewalt oder zur Verzweiflung und damit zur Depression.

DIE FURCHE: Viele der Kinder, die zu Ihnen an die Klinik kommen, haben das nicht gelernt. Welche Stressgeschichten haben Ihre Patientinnen und Patienten hinter sich?

Thun-Hohenstein: Diese Kinder haben fast alle eine lebenslange Stressgeschichte. Durch schwierige, ökonomische Lebensbedingungen, durch Trennung der Eltern, Gewalterfahrung im häuslichen und schulischen Umfeld, durch Mobbing, auch Cybermobbing, oder durch ein tragisches Ende von Freundschaften. Wenn die "normalen“ Belastungen wie Pubertät und Entwicklungsaufgaben noch dazu kommen, dann ist das zu viel für den Organismus und es entsteht eine psychische Erkrankung. Die kann von schweren Störungen des Sozialverhaltens, etwa stehlen, Feuer legen, Tiere und Menschen quälen, bis zu Depressionen oder zu psychotischen Erkrankungen reichen. Man weiß heute, dass fast alle Krankheiten mehr oder weniger von diesem Zusammenwirken von Belastung, Verletzlichkeit und Anpassungsfähigkeit des Menschen abhängen.

DIE FURCHE: Wie alt sind eigentlich die Kinder, die Sie aufnehmen?

Thun-Hohenstein: Die jüngsten Kinder sind vier Jahre alt und kommen in die Tagesklinik. Im Prinzip gibt es auch "psychisch kranke“ Babys, etwa Schreibabys, Babys mit Gedeih- und Fütterstörungen oder mit Interaktionsstörungen, wobei der Begriff "Psychische Krankheit“ für dieses Alter etwas übertrieben ist. Es gibt aber auch schon beim Säugling Formen von Depressionen oder Essstörungen, das sind Ausdrucksformen von seelischer Not.

DIE FURCHE: Bemerken Sie hier Zunahmen?

Thun-Hohenstein: Insgesamt ist die Zahl der psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen 50 Jahren, in denen gemessen wird, etwa gleich geblieben. Zehn Prozen sind behandlungsbedürftig, weitere zehn Prozent sind gefährdet. Das gilt übrigens auch für Erwachsene. Innerhalb dieser Zahl hat es aber Verschiebungen gegeben: Alle expansiven Verhaltensstörungen, etwa Hyperaktivität oder Störungen des Sozialverhaltens, haben zugenommen, ebenso wie Essstörungen. Das hat aber auch damit zu tun, dass die psychiatrische Welt immer wieder ihre Nomenklaturen ändert oder das Augenmerk auf andere Störungsbilder richtet.

DIE FURCHE: Was kann oder muss die Politik Ihrer Ansicht nach tun, um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu verbessern?

Thun-Hohenstein: Viel. Derzeit rangiert Österreich in den UNICEF-Reports zur Gesundheitssituation von Jugendlichen in reichen Nationen auf Platz 21 von 29 Ländern. In Bezug auf die Kindergesundheit ist die Situation katastrophal. Es gibt noch immer kein Bekenntnis dazu, dass man in seelische Gesundheit investieren muss. England oder die skandinavischen Länder haben eigene Ministerien für "mental health“, hier investiert man sowohl in Prävention wie auch in die Behandlung. In Amerika gibt es Präventionsprogramme, die zeigen, dass jeder Dollar, der hier investiert wird, bis zu acht Dollar generiert. In Österreich fehlen hingegen koordinierte Präventionsprogramme, man kann auch keine Gesundheitsdaten zu diesem Problem finden. Ich hoffe immer vor den Wahlen auf Veränderungen. Aber das rechnet sich leider nicht von einem Wahltag zum anderen.

DIE FURCHE: Bildungsdaten werden hierzulande meist bejammert, Gesundheitsdaten scheinbar ignoriert …

Thun-Hohenstein: Die werden nicht einmal erwähnt! Es interessiert auch die Massenpresse nicht: Psychische Krankheit gilt als unanständig und wird gern tabuisiert. Viele glauben hier an Selbstverschuldung, nach dem Motto: Da bist du schon selber schuld, wenn es dir schlecht geht!

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