Das echte Leben als Spiel auf der Bühne

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Am Volkstheater zeigen Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf mit "Das Kind“ die zweite Folge ihres Reality-Projekts "wenn es soweit ist“.

Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr führt die Welt in den Menschen ein.“ Diese Redewendung aus dem 19. Jahrhundert haben sich Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf mit ihrem Theaterprojekt "wenn es soweit ist“ zu Herzen genommen. Bereits zum zweiten Mal lassen sie Menschen ihre Geschichten am Theater erzählen. In "Die Reise“ waren es Geschichten von Flucht, Asyl und der Suche nach einer neuen Heimat. "Das Kind“ bringt nun Kinder und Erwachsene verschiedener Länder und Generationen auf die Bühne des Volkstheaters, um übers Kindsein und über Kindheitserinnerungen zu erzählen. Da ist zunächst Silvia, die von den Geburten ihrer acht Kinder spricht, und Helmut, der als Krisenpflegevater gemeinsam mit seiner Familie Kindern in Notsituationen vorübergehend ein Zuhause gibt: von der Scheidung ihrer Eltern geprägte junge Erwachsene wie Luca und Yvonne oder Nikolai, der seiner überfürsorglichen Mutter zuliebe anderthalb Jahre ins Ballett ging ("Du willst das schon Nikolai, oder? Weil sonst gehen wir nicht hin. Willst du das?“). Die Schutzlosigkeit, mit der wir als Kinder der Welt der Erwachsenen ausgeliefert sind, symbolisieren weiße Pölster, die vom Ensemble umsorgt und liebkost, mit denen aber auch wilde Kämpfe veranstaltet werden.

Verluste und Traumatisierungen

Menschenleben um Menschenleben versammelt sich auf der kahlen, weißen Bühne, über dreißig Personen sind es, die der Reihe nach ihre Schicksale in kurzen Episoden preisgeben (nur Martina Stilp spielt eine Rolle). Dazwischen wird quer über die Bühne gestürmt, getanzt, werden Schulszenen nachgestellt, immer wieder unterbrochen vom schrillen Pausenläuten. Von fragwürdigen Erziehungsmaßnahmen wird nicht nur berichtet, sondern das Publikum einer solchen gleich selbst unterzogen ("Und jetzt Alle: Ich muss im Volkstheater mein Telefon ausschalten“). Der Umgang mit Tod und Leben, mit schweren Traumatisierungen, Gewalt und sexuellem Missbrauch, mit dem Verlust von Mutter und Vater, all das sind die Themen, an denen sich das Stück von Szene zu Szene entlang arbeitet. Jede Geschichte hat ihren eigenen Rhythmus, zusammen ergeben sie eine zeitliche Abfolge von der Geburt an, bis zum Tod der Eltern und den Erfahrungen mit dem eigenen Älterwerden. Beklemmend und berührend sind diese Geschichten, doch sie hinterlassen auch den schalen Nachgeschmack des Voyeurismus. Dokumentationstheater ist ein beliebter Kunstgriff (zur Perfektion gebracht von der Theatergruppe Rimini Protokoll) - die Gefahr, dass die darin mitspielenden Protagonisten ausgestellt und vorgeführt werden, schwingt immer mit. Eingebettet zwischen nett arrangierten Gruppenchoreographien, wird das wahre Leben fürs Publikum zur leicht konsumierbaren Unterhaltungsware.

Mittlerweile hält die Suche nach dem Wahren und Authentischen bereits eine ganze Unterhaltungsindustrie auf Trab. Reality-Formate, die das vermeintlich "Echte“ heraufbeschwören, prägen unsere Sicht auf die (Medien-)Welt. Echte Menschen, echte Geschichten, das echte Leben: wir wollen es sehen. Der Germanist und Kulturwissenschafter Helmut Lethen hat in einem Aufsatz über die Faszination "Authentizität“ davon geschrieben, dass wir in Kunst und Medien das Authentische nicht finden werden, sondern nur Verfahren, die den Effekt des Authentischen auslösen. Durch seine Unmittelbarkeit funktionieren diese Effekte am Theater noch eindringlicher. Laiendarsteller, die mutig und ein wenig aufgeregt von ihrem Leben und ihren traumatischen Kindheitserinnerungen erzählen - auf der Bühnenrampe stehend haben sie unsere vollste Anteilnahme und verdienen unseren Applaus. Doch auch wenn es das echte Leben ist, von dem hier erzählt wird, löst sich die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum nicht auf. Es bleibt, was es ist: nur ein Spiel von der Wirklichkeit.

Das Kind

Volkstheater Wien

nächste Termine: 3., 10., 13., 15. Mai

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