Das Ende der Bonner Republik

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Die Wähler spürten offenbar instinktiv, daß die Berliner Republik nicht das Deutschland Helmut Kohls sein würde.

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Die Wähler spürten offenbar instinktiv, daß die Berliner Republik nicht das Deutschland Helmut Kohls sein würde.

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Die Schätzungen gehen auseinander, wieviele der Westdeutschen jenen 1. Oktober 1982 bewußt erlebt hatten, als der damalige Bundestagspräsident Richard Stücklen (CSU) am Nachmittag die Frage stellte: "Herr Abgeordneter Dr. Kohl, nehmen Sie die Wahl zum Bundeskanzler an?" Seitdem sind 16 Jahre vergangen, und mehr als 25 Jahre war Helmut Kohl auch Vorsitzender der CDU. Deutschlands - und auch Europas letztes Viertel unseres Jahrhunderts wurde von diesem Mann entscheidend geprägt.

Im Rückblick werden er und sein System geradezu zwangsläufig zu einer Epoche der Geschichte. Seine Zeit dauerte länger als die Weimarer Republik (15 Jahre). Und selbst das zwölf Jahre währende Dritte Reich wird durch diese Spanne in seiner zeitlichen Dimension relativiert. Schon in den letzten Jahren und vor allem jetzt anläßlich seiner Niederlage und seines Rücktritts bescheinigten ihm Freund und auch Feind die historischen Leistungen. Auch der neue Kanzler Gerhard Schröder wurde in den Tagen nach dem 27. September - zuletzt auch bei der Feier zur deutschen Einheit am 3. Oktober - nicht müde, dies immer wieder zu betonen. Das ist nicht nur fairer Stil, es ist auch Überzeugung dabei.

An Helmut Kohl als Person und Politiker hat man sich gerieben. Man konnte nur für ihn oder gegen ihn sein. Die SPD - in Verbindung mit so manchen Hamburger Medien - verstand es bald, ihn wegen seines Äußeren ("Birne") und seiner "provinziellen" Herkunft (Oggersheim bei Ludwigshafen) geschickt und diffamierend zu etikettieren. Noch kurz vor der Wahl beklagte er sich in einem Interview, daß alle glaubten, er esse dreimal am Tag nichts anderes als Pfälzer Saumagen. Mit seiner Abwahl ist somit eine jahrzehntelange Zielscheibe und Lachnummer plötzlich verschwunden, und ernsthaft fragt schon das Feuilleton, was nun denn die alle machen werden, die so von ihm ganz schön gelebt haben.

Helmut Kohl wurde sehr oft unterschätzt, und davon konnte er auch profitieren. Entscheidend unterschätzt hatte ihn auch sein heftigster Widersacher in der Union, Franz Josef Strauß. Man will es kaum glauben und fast schon schicksalhaft nennen, daß zwischen Strauß' Tod (3. Oktober 1988) und Kohls Niederlage fast auf den Tag genau zehn Jahre liegen.

Nach der Wahl wurde in Berichten und Kommentaren immer wieder betont, daß es in der EU nun kaum noch nennenswerte christlich-demokratisch-konservative Regierungen gibt. Ist das Zufall oder ein Trend, wie manche Politikwissenschaftler behaupten? Konnte diesen Helmut Kohl durch seine politische Begabung wie vor allem durch die Gnade der Wiedervereinigung aufschieben, aber nicht aufheben? Man möchte das fast meinen, wenn man nicht wüßte, wie oft die Geschichte dann doch anders verläuft, als manche Parameter es vermuten lassen.

Geschichte Die Geschichte: Wie kaum ein anderer deutscher oder auch europäischer Politiker lebte Helmut Kohl von der und durch die Geschichte. Es ist nicht nur das Studium alleine gewesen, sondern auch die instinktsichere Erkenntnis dessen, daß gerade in der Mitte Europas verantwortungsvolles politisches Handeln nur in der Kenntnis des Woher geschehen kann, um das Wohin bestimmen zu können.

Aufgrund dieses in der Geschichte wurzelnden Politikverständnisses war und ist Helmut Kohl wie kaum ein anderer Politiker ein Freund Österreichs. Er wußte um unseren historischen Stellenwert und um unsere Bedeutung für Europa. Daraus resultierte auch die deutliche Hilfe für den EU-Beitritt, ohne jedoch auch damit je nur den Anschein einer deutschsprachigen Dominanz in der EU zu vermitteln. Daß schon jahrzehntelang seine Urlaubsziele in Österreich liegen, hat sicher geschmeichelt.

Die Fehler Kohls und die Ursachen seiner Niederlage sind bekannt: eine zu stark auf sich bezogene Parteiführung, zunehmend unfähig, sich ernst- und wohlgemeinter Kritik zu stellen. Er hatte immer weniger Lust auf innenpolitische Detailarbeit gehabt, er konnte die Erwartungen der Ostdeutschen nicht mehr richtig einschätzen und ihnen begegnen. Die SPD-Blockade im Bundesrat ab 1994 verhinderte wichtige Reformvorhaben wie die Steuerreform. Die Ausgabenrestriktionen im Hinblick auf den Euro und die Rücksicht auf den Partner FDP ließen auch die für den Abbau der Arbeitslosigkeit wichtige Binnennachfrage stagnieren. Und vor allem in der Endphase: Wie bei vielen Großen wußte Kohl nicht mehr, wann es Zeit gewesen wäre, rechtzeitig aufzuhören. All das und andere Momente waren die Ursachen der deutlichen Niederlage der Union.

Doch die in Europa derzeit einzig verbliebene große christlich-demokratische Volkspartei CDU/CSU scheint auf gutem Weg zu sein, in dieser Niederlage Kraft zur Regeneration zu besitzen. Dominoartig traten in den letzten Tagen verschiedene Spitzenpolitiker ohne großen Paukenschlag zurück, um den Weg frei für eine neue Generation zu machen. Wolfgang Schäuble, ein Endfünfziger, wird wahrscheinlich nur eine Übergangslösung sein. Die Generation der Vierzigjährigen, die "jungen Löwen", haben schon ihre Ansprüche angemeldet. Darunter auch der Hamburger CDU-Fraktionsvorsitzende Ole von Beust, dessen Urur-Großonkel Friedrich von Beust nach 1866 österreichischer Außenminister war.

Es scheint, daß die Union derzeit in einer besseren Verfassung ist als zu Beginn ihrer letzten Oppositionszeit von 1969. Es wird sich zeigen, ob sie imstande ist, der Reihe nach wieder ihre ursprüngliche Ländermacht zurückzuerobern, was Grundlage eines Erfolgs im Bund ist.

Auch wenn die Bewertung dieser nun zu Ende gegangenen Epoche künftigen Historikergenerationen zusteht, es fällt Kommentatoren wie auch Gegnern schon jetzt nicht schwer, Helmut Kohl zumindest in eine Reihe mit Adenauer und Bismarck zu stellen. Es wird in Erinnerung bleiben, daß unter ihm die Einigung Deutschlands vollendet und die Europas in Gang gebracht wurde. Daß zu seiner Zeit der totalitäre Kommunismus überwunden wurde (was noch zu Beginn der Ferien 1989 niemand auch nur im geringsten ahnte). Und daß es eigentlich gute Jahre unter Helmut Kohl waren.

Rheinischer Katholik Wie auch immer man das einschätzen mag, für einen Epochenwechsel erschien eine derartige Zäsur am vorletzten Sonntag fast schon zu geschäftsmäßig abgehandelt worden zu sein. Und es war in der Tat ein Einschnitt, obwohl jetzt niemand im Gegensatz zu 1969 und 1982 von Wende oder dergleichen spricht.

Mit Helmut Kohl tritt - zumindest vorerst - der letzte rheinisch-katholische Politiker und Staatsmann ab. Der neue Bundeskanzler Gerhard Schröder ist norddeutsch-protestantisch geprägt und wird so früh wie möglich im nächsten Jahr von Berlin aus regieren. Der deutsche Entwurf von 1949, von Konrad Adenauer entscheidend gewollt, zuerst sich als Provisorium verstehend, dann immer mehr im In- wie Ausland akzeptiert, ist unweigerlich zu Ende gegangen. Die Verschiebung der innerdeutschen Machtachse vom Rheinland nach Osten hat mit Rudolf von Habsburg Ende des 13. Jahrhunderts eingesetzt und war wohl auch nach den Verlusten der deutschen Ostgebiete nicht mehr rückgängig zu machen. Das wußte gerade auch der Historiker Helmut Kohl. Deshalb war er 1991 zumindest nach außen hin für die Berlin-Entscheidung. Ob das unbewußt vielleicht doch nicht so ganz seiner Einstellung entsprach, kann gefragt werden. Der Wähler hat aber offenbar mit historischem Gespür entschieden, daß die Epoche der Bonner Republik mit Helmut Kohl zu enden hat.

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