Das Evangelium der Schönheit

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Vor 200 Jahren wurde John Ruskin geboren, der "Meister in jeder Wissenschaft edler Lebensführung". Der gefeierte Kunsttheoretiker warnte aber auch eindringlich vor den destruktiven Folgen der Industrialisierung.

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Vor 200 Jahren wurde John Ruskin geboren, der "Meister in jeder Wissenschaft edler Lebensführung". Der gefeierte Kunsttheoretiker warnte aber auch eindringlich vor den destruktiven Folgen der Industrialisierung.

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"Große Kunst nimmt die Natur, wie sie ist und richtet Augen und Gedanken auf das Vollkommenste in ihr." Für den Kunsthistoriker und Schriftsteller John Ruskin waren Reflexionen über die Ästhetik von entscheidender Bedeutung; in umfangreichen Studien propagierte er ein "Evangelium der Schönheit". Durch zahlreiche Vorträge und Publikationen avancierte Ruskin zu einem der führenden Intellektuellen in Großbritannien; er stand in regem Gedankenaustausch mit William Turner, dem Frühsozialisten William Morris und der Künstlergruppe der Präraffaeliten, die für ein neuartiges Naturverständnis in der Malerei eintraten.

Geboren wurde John Ruskin am 8. Februar 1819 in London als Sohn einer wohlhabenden Weinhändlerfamilie. Mit seinen Eltern unternahm er bereits als Jugendlicher zahlreiche Reisen mit einer eigenen Postkutsche nach Frankreich, Italien und in die Schweiz. Das gemächliche Reisen bot Ruskin die Möglichkeit, Landschaften und Sehenswürdigkeiten detailliert zu zeichnen, was eine Grundlage seiner späteren kunsthistorischen Arbeit darstellte.

1837 begann Ruskin ein Studium in Oxford, verfasste architekturtheoretische Schriften und setzte sich mit großem Engagement für die Gemälde von William Turner ein, die von zeitgenössischen Kritikern verhöhnt wurden. Der Grund dafür war Turners virtuose Darstellung von Licht-und Witterungseffekten, die er in großformatigen Ölstudien darstellte. Sie entsprachen nicht dem Geschmack der zeitgenössischen Kunstkritik und nahmen spätere avantgardistische Strömungen wie den Impressionismus vorweg.

Die Schönheit natürlicher Formen

Besonders begeisterte sich Ruskin für die Kunst der Gotik, die er während eines längeren Aufenthalts in Venedig genauer kennenlernte. In seiner dreibändigen Studie "Die Steine Venedigs", in der rund tausend Objekte abgebildet wurden, wies er auf eine Ähnlichkeit der gotischen Kunstwerke mit der Welt der Botanik hin: "Es war kein Zufall, dass man die Wölbung eines Bogens mit der Biegung eines Astes in Verbindung brachte, sondern die schrittweise Entdeckung einer Schönheit in natürlichen Formen, die immer vollkommener dem Stein auferlegt wurde. Die beeinflusste gleichzeitig das Herz der Menschen und die Form der Gebäude." Ruskin plädierte für eine Ästhetik, die sich am mittelalterlichen Kunstverständnis orientierte. Das Kunstwerk wurde von ihm als ein Produkt menschlicher Arbeit angesehen, an dem sich der prozessuale Charakter der Entstehung ablesen ließ. So gesehen würde die niemals fertiggestellte Kathedrale Sagrada Família von Antoni Gaudí Ruskins Vorstellung eines lebendigen Kunstwerks entsprechen.

Der Aufenthalt in Venedig war nicht ungetrübt. Einerseits ließ die Stadtverwaltung Gebäude und Monumente aus Geldmangel und Nachlässigkeit verfallen, andererseits machten sich erste Anzeichen des sich ausbreitenden Frühkapitalismus bemerkbar. Es gab Überlegungen, die Eisenbahn bis in das Stadtzentrum zu führen und einen Boulevard entlang dem Canale Grande zu bauen. "All die Wandlungen zum Schlechten, die ich jemals in einer bestimmten Zeitspanne beobachten konnte, werden von der Entwicklung Venedigs übertroffen", notierte Ruskin, "das grenzt an Vernichtung". Nach seiner Rückkehr von Venedig arbeitete Ruskin als Kunstpädagoge in einer Zeichenschule - mit dem Ziel, Menschen, die kaum in Berührung mit künstlerischen Tätigkeiten kamen, "mehr Schönheit als bisher in der Natur und Kunst zu vermitteln, damit sie mehr Freude am Leben erlangen".

Kunst und Kunsthandwerk

Dieses Grundanliegen findet sich auch in dem "Arts and Crafts Movement", zu dessen Mitgliedern der Sozialreformer und Frühsozialist William Morris und der Dichter Dante Gabriel Rossetti zählten. Sie sprachen sich im Zeitalter einer zunehmenden maschinellen Produktion für die Aufwertung des Handwerks aus; gefragt war die Verbindung von Kunst und Kunsthandwerk, die mit einer Ablehnung jeder industriellen Fertigung, die mit Hilfe von Maschinen erfolgte, einherging. Die Devise lautete: Qualität und Nachhaltigkeit statt billiger Massenware. Ruskins Engagement für die Kunstgeschichte und Kunstpädagogik wich allmählich einer radikalen Kritik an der frühkapitalistischen Gesellschaft, die er für die wachsende Industrialisierung und die damit einhergehende Zerstörung von Landschaften verantwortlich machte.

Diese Kritik findet sich speziell in der Schrift "Unto This Last" ("Diesem Letzten"), die der Autor als sein wichtigstes Werk bezeichnete. Es handelt sich dabei um eine Anklage gegen die Auswüchse der Industrialisierung, die der Raubtierkapitalismus mit sich brachte. Ruskin polemisierte gegen die wachsende Zahl von Fabriken, die zunehmende Luftverschmutzung und die Zerstörung intakter Landschaften. Prophetisch klingen Ruskins satirisch gemeinten Ausführungen: "Ich ahne, dass binnen weniger Jahre Luzern aus einer Reihe symmetrischer Hotelbauten entlang der Seefront bestehen wird, dass dann dort ein chinesischer Tempel steht, in dem eine deutsche Kapelle spielt und dass dort die Reisenden vor der Kulisse der Alpen einen modernen Totemtanz aufführen." Besonders berührte Ruskin das Elend der verarmten Schichten; siebzehnstündige Kinderarbeit, Hungerlöhne, ungenügende Ernährung und desolate Wohnverhältnisse standen an der Tagesordnung. In seiner Schrift "Die Lage der arbeitenden Klasse" beschrieb Friedrich Engels dieses Elend am Beispiel eines "sogenannten Logierhauses", in dem Obdachlose vorübergehend Unterkunft fanden: "Das Haus ist von oben bis unten mit Betten angefüllt. In jedes Bett werden vier, fünf, sechs Menschen gestopft -Kranke, Gesunde, Alte und Junge, Männer und Weiber, Trunkene und Nüchterne, wie es gerade kommt, alles bunt durcheinander." Ruskin scheute sich nicht, die Profiteure des kapitalistischen Systems mit dem sozialen Elend zu konfrontieren und bezichtigte sie der Gleichgültigkeit: "Selbst der grausamste Mensch könnte nicht an seiner Festtafel sitzen, säße er dort nicht mit verbundenen Augen."

Visionärer Zivilisationskritiker

Die Rolle des Zivilisationskritikers veränderte Ruskins gesellschaftlichen Status. War er vorerst der Liebling eines kunstinteressierten Publikums, der rund fünfzig Jahre lang Vorträge über Kunstgeschichte, Literatur, Architektur, gotische Kathedralen oder über Mineralogie und Geologie hielt, erfuhr er nunmehr Ablehnung und Hohn. Seine Vorschläge, Fixlöhne einzuführen, Weiterbildungseinrichtungen für Arbeitslose einzurichten und eine staatliche Versorgung für alte oder schwache Menschen zu garantieren, wurden als Marotten eines Phantasten abgetan. Ruskin zog sich zurück, vereinsamte und litt unter Depressionen. Er verstarb am 20. Jänner 1900 in seinem Landhaus im Lake District.

Eine adäquate Würdigung Ruskins findet sich bei Oscar Wilde: "Meister in jeder Wissenschaft edler Lebensführung und in aller Weisheit der Dinge des Geistes wird er uns immer sein. Er war es ja doch, der durch die zwingende Kraft seiner Persönlichkeit und die Musik seiner Rede uns die begeisterte Liebe zur Schönheit lehrte."

John Ruskin. Leben und Werk Von Wolfgang Kemp Fischer 2016 488 Seiten, kart., € 25,70

Ästhet und Sozialreformer

Ruskin entstammte einer wohlhabenden Familie und galt als einer der führenden Intellektuellen seiner Zeit. Im Laufe seines Lebens wandte er sich aber auch vermehrt sozialen Fragen zu und kritisierte den Kapitalismus, das Elend der Arbeiterschaft und die Zerstörung der Natur.

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