Das Gegenteil des Liberalen

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Nach dem Vulgärmarxismus trommelt der Vulgärliberalismus auf uns ein: Das hat uns gerade noch gefehlt!

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Nach dem Vulgärmarxismus trommelt der Vulgärliberalismus auf uns ein: Das hat uns gerade noch gefehlt!

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Der Vulgärmarxismus ist tot. Es lebe der Vulgärliberalismus. Und das tut er auch wirklich: Er lebt. Jedenfalls, soweit es von den coolen Boys abhängt, die uns regelmäßig mit Kolumnen beglücken, die das angeblich Notwendige als das einzig Wahre, Gute und Schöne bejubeln. Sie reiben jedem, der für geregelte Ladenschlußzeiten eintritt, unter die Nase, wie verstaubt und gestrig er ist. Alle, die nicht in ihr Gezeter über das "unerträglich hohe Niveau" der sozialen Sicherheit in Deutschland und Österreich einstimmen, trifft ebenfalls der Bannstrahl. Das System, mit dem diese soziale Sicherheit derzeit immer noch finanziert wird, lehnen sie grundsätzlich ab. Wer dieses System, das in Deutschland, Österreich, Frankreich und etlichen anderen Ländern nach wie vor schlecht und recht funktioniert, grundsätzlich für gerecht und verbesserungswürdig hält und daran festhalten will, kommt sich beim Lesen ihrer Kolumnen geradezu wie ein Trottel vor.

Warum sehen die Leute nicht endlich ein, daß Ladenschlußzeiten und hohe soziale Standards aus der sozialpolitischen Steinzeit stammen, daß diese unwiderruflich zu Ende ist und man sich erst homo sapiens nennen darf, sobald man eine private Pensionsversicherung abgeschlossen hat? Doch halt. Wir haben einen neuen Begriff gebraucht, ohne ihn zu erklären: Vulgärliberalismus. Dabei können wir doch nicht einmal den Liberalismus zur allgemeinen Zufriedenheit kurz und bündig definieren, geschweige denn den Neoliberalismus. Begnügen wir uns trotzdem mit dem Hinweis, daß wir genau dasjenige meinen, was heute fast jeder spontan versteht, wenn vom Neoliberalismus die Rede ist.

Vulgärmarxismus aber nannte man in der Blütezeit des Kommunismus seligen Angedenkens eine allzu simple Auffassung der reinen Lehre: Marxismus, wie ihn sich der kleine Max, der keine Ahnung vom großen, wahren Marx hatte, halt so vorstellte. Aber auch die meisten Klassiker des marktwirtschaftlichen Denkens haben den Zustand, der ihnen vorschwebte - und die damit verbundenen Probleme - etwas anders dargestellt als die coolen Boys in den Magazinen, die eine allzu simple Version der freien Marktwirtschaft preisen.

Was an ihren Kolumnen stört, ist nicht das grundsätzliche Eintreten für offene Märkte, Liberalisierung, Abbau der Bürokratie, Zurückhaltung bei den öffentlichen Ausgaben und Eigenverantwortung. Was hingegen sehr stört, ist die Selbstgerechtigkeit, der präpotente und höhnische Ton, mit dem diese Sachwalter des ökonomischen Zeitgeistes alles, was ihnen nicht genehm ist, verbal niederbügeln. Und die Debatte über die Sonntagsruhe ist dafür nun einmal wirklich ein prächtiges Beispiel. Der Ladenschluß am Sonntag "ein bürokratischer Panzer, der Europas Wirtschaft am Wachsen hindert"? Ist das ernst gemeint? Der Ladenschluß am Sonntag ist der Bösewicht, der Europas Konsumenten abhält, soviel zu konsumieren, daß endlich der Boom ausbricht, der uns die verlorenen Arbeitsplätze wiederbringt? "Wo unternehmerische Unternehmer und kauflustige Konsumenten von der Obrigkeit daran gehindert werden, miteinander Handel zu treiben, muß wirtschaftliche Stagnation die zwangsläufige Folge sein." Klartext, unausgesprochen: Wann immer und wo immer. Obwohl sich nicht der Chef der Kaufhauskette selbst am Sonntag oder um Mitternacht mit dem Bauchladen auf die Straße stellt. Seine Verkäuferinnen müssen zur Stelle sein, wann es ihm paßt.

Die Argumente gegen die Sonntagsruhe sind ein Beispiel für eine vereinfachte, primitive Sicht des wirtschaftlichen Geschehens, mit welcher der entfesselte Konkurrenzkampf der Haie den kleinen Fischen als notwendiger Schritt auf dem ehernen Wege der Modernisierung schmackhaft gemacht werden soll. Dabei wird nicht nur jeder abweichende Standpunkt, jeder Versuch, zu differenzieren, sondern auch der Anspruch der Politik auf Lebensgestaltung negiert. Der Hohn auf die "schießwütigen Gewerkschafter" (Christian Ortner im "Format" vom 9. August; die zitierte Kolumne steht hier nur als Beispiel für eine ganze Richtung), die fortschrittliche Unternehmer vor Gericht zerren, wird zum Hohn auf die Politik schlechthin, soweit diese noch etwas mehr sein will als der Erfüllungsgehilfe privaten Gewinnstrebens.

Die Entscheidung, ob der gemeinsame freie Sonntag der Familienmitglieder weiter die Norm darstellen soll oder nicht, kann aber nun einmal nicht Ermessenssache der Herrschaften in den Managementetagen der Kaufhausketten sein, die einander mit allen Mitteln aus dem Markt boxen wollen. Der Krieg sei eine zu ernste Sache, um ihn den Generälen zu überlassen, hieß es einst. Auch die Wirtschaft ist eine zu ernste Sache, um sie völlig den Managern und Aktionären zu überlassen.

Es gibt ja noch eine andere Parallele zwischen Vulgärmarxismus und Vulgärliberalismus. In beiden Fällen hielten beziehungsweise halten sich auch die Macher selbst an die verkürzten Volksausgaben der großen Entwürfe. Der große Herr im Kreml oder in Pankow selbst war der kleine Max, der den großen Marx mißverstand. Der freilich hatte sich seinerseits in eine gefährliche Gasse verrannt, als er die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße stellen wollte. Bei all seiner historischen Bildung übersah er nämlich etwas Entscheidendes: In keinem Fall, in dem das berühmte Vom-Kopf-auf-die-Füße-Stellen der Verhältnisse in Angriff genommen wurde, kam das gewünschte Resultat heraus - sehr oft dafür ein eingeschlagener Schädel. Fest programmierte Reisen zum Zielbahnhof der Geschichte gehen immer schief. Auch das rücksichtslose globale Durchziehen marktwirtschaftlicher Konzepte ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen hat Züge einer solchen gefährlichen Reise.

Die Stoßrichtung geht dabei derzeit gegen die Gewerkschaftsfunktionäre ebenso wie gegen die Kirchen. Die Sonntagsruhe kann zum Präzedenzfall werden, um alles zu Fall zu bringen, was der rücksichtslosen Verfügung über die Arbeitskraft rund um die Uhr noch im Wege steht. "Wo auch immer am Sonntag ein Laden offen ist, stürmen die Menschen die Geschäfte, als hätte sich gerade die Mauer zwischen Plan- und Marktwirtschaft geöffnet": Daß etliche hierzulande seit Jahren auch am Sonntag geöffnete Läden keineswegs gestürmt werden, fällt dabei ebensowenig unter den Tisch wie die Selbstverständlichkeit, daß nach dem Abflauen des Neuigkeitseffektes insgesamt bestenfalls ein geringer Mehrumsatz übrig bliebe. Der ginge wohl zu Lasten der von den coolen Boys sonst so gepriesenen kleinen Unternehmer, die keinen Siebentageservice bieten können. Vielleicht zählt es auch zu den Zielen der Attacke gegen die Sonntagsruhe, möglichst viele von ihnen umzubringen.

Auch an einer anderen Front wird Wesentliches verschwiegen. Die private Altersvorsorge zählt zu den Lieblingsthemen der vulgärliberalen Kolumnen. Die Sozialversicherungssysteme sind der harte nicht-marktwirtschaftliche Kern inmitten immer konsequenter marktwirtschaftlich durchorganisierter Gesellschaften, sie sind der letzte Bereich, in dem nicht-marktwirtschaftliche Systeme sehr wohl ihre Effizienz erweisen und werden dadurch zum Ärgernis und zur permanenten Provokation. Das "wohlfahrtstaatliche Denken von gestern", um denselben Kolumnisten nochmals zu zitieren, liegt quer im Flußbett des Zeitgeistes. Auch besteht ein handfestes Interesse an den gewaltigen neuen Märkten, die sich durch die Privatisierung der sozialen Sicherheit auftäten.

Daß auch die private Alterssicherung Risken birgt, wird verschwiegen. Bekanntlich wird im allgemeinen ein mehr oder weniger großer Teil des angesparten Kapitals auf den Aktienmärkten veranlagt. Er ist umso größer, je schneller die Vermögensbildung vonstatten gehen soll. Sicherungen gegen einen nachhaltigen Niedergang der Börsen gibt es nicht. Dafür trägt das Aufkommen aus der privaten Altersvorsorge zur Aufblähung der Börsenspekulation und zur Vergötzung des shareholder-values bei, das heißt zur Gewinnausschüttung um jeden Preis.

Das alles sind Dinge, über die nachgedacht und gesprochen werden muß. Vereinfachendes, undifferenziertes Denken ist immer und überall gefährlich. Nicht die große Marschrichtung, die uns die vulgärliberalen Kolumnisten weisen, ist von Übel. Von Übel ist deren totales Unverständnis für eine Lebensgestaltung nach anderen als ökonomischen Gesichtspunkten. Die Abwertung des politischen und religiösen Anspruches auf Mitsprache. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der Veränderungen. Das Ignorieren des Menschen.

Diese Haltung unterscheidet den Vulgärliberalen vom Liberalen. Der Liberale aber ist geradezu das Gegenteil des Vulgärliberalen.

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