Das Geheimnis der GRINSEKATZE

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"Alice im Wunderland" ist 150 Jahre alt: Wie aus einer schrägen viktorianischen Geschichte ein modernes Schlüsselwerk wurde.

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"Alice im Wunderland" ist 150 Jahre alt: Wie aus einer schrägen viktorianischen Geschichte ein modernes Schlüsselwerk wurde.

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"Es wäre gut viel nachzudenken, um von so Verlornem etwas auszusagen", so Rainer Maria Rilke zum Auftakt seines Gedichts "Kindheit". Was etwa bleibt den Vielen, die ihr gnadenlos entwachsen sind und deren frühe Erinnerungen sich im Nebel der Zeit verflüchtigen? Vielleicht die Hoffnung auf jenen flüchtigen Zauber, der den deutschen Lyriker Emanuel Geibel befiel, als er sein "Töchterlein" beim Lesen von Märchenbüchern beobachtete: "Da kommt auf mich ein Dämmern wunderbar, gleich wie im Traum verschmilzt, was ist und war". Oder aber die Lektüre von so genannten Kinderbüchern wie "Alice im Wunderland", das seit seinem Erscheinen 1865 Leser aller Altersstufen in seinen Bann zu ziehen versteht. Als fantastisches Panoptikum entwickelte es sich zu einem populären Mythos mit ungebremster kultureller Breitenwirkung. Und die kleine Alice aus dem Roman, die von einem weißen Kaninchen in eine Welt mit kuriosen Kreaturen gelotst wird, ist seither das wohl berühmteste Mädchen der englischen Literatur.

Ihr literarischer Schöpfer, ein schrulliger Mathematikprofessor aus Oxford, der sich hinter dem Pseudonym Lewis Carroll verbarg, hatte eine tiefe Abneigung gegen den Lauf der Zeit: Er sah es nicht gerne, dass Kinder heranwuchsen und sich wie Erwachsene zu benehmen begannen. Dies galt gerade ür seine Bekanntschaft mit Alice Lidell, der sich das Buch verdankt: Es war ein Sommertag des Jahres 1862, als Carroll alias Charles Dodgson (so der bürgerliche Name) Alice und ihre beiden Schwestern die Themse hinauf ruderte und sie mit jenen Geschichten unterhielt, die später zum literarischen "Wunderland" destilliert wurden. Immer wieder wurden ihm die drei Kinder von Henry Liddell, dem Dekan des Oxford Christ Church College, anvertraut.

Ein zentrales Motiv hinter Carrolls Kreativität sei der Versuch gewesen, die Zeit festzuhalten, gleichsam einzufrieren, schreibt der englische Literaturwissenschafter Robert Douglas-Fairhurst, der der Geschichte von Alice anlässlich ihres 150-jährigen Jubiläums eine viel beachtete Monografie gewidmet hat. Durch Texte wie "Alice im Wunderland" (1865) und das Folgewerk "Alice hinter den Spiegeln" (1871), aber auch in seinen fotografischen Porträts habe Carroll versucht, die Magie der Kindheit künstlerisch zu konservieren.

Kult der Kindheit

Bevor Alice Lidell zur Kultfigur wurde, hatte sie bereits als Fotomodell für den Oxford-Professor posiert, der sich für die damals "neue Wissenschaft" der Fotografie begeisterte. Rund 3000 Bilder hat er zwischen 1856 und 1889 angefertigt; auf mehr als der Hälfte davon sind Kinder abgelichtet. Allein von Alice gibt es 20 Aufnahmen -stilisiert als Elfengesicht, "Bubenmädchen" oder als junge viktorianische Dame. Während Alice als literarische Figur für immer sieben Jahre alt bleibt, hat Alice Lidell beim Erscheinen des ersten Buches ihren dreizehnten Geburtstag bereits hinter sich: "Alice hat sich doch deutlich verändert, und dies nicht unbedingt zum Besseren", notierte der Autor damals mit merklicher Abneigung.

Auch zum 150. Jahrestag stellt sich die Frage, ob Carrolls Werk nur eine unschuldige Fantasie oder eine Geschichte mit dunklem biografischen Hintergrund zum Ausdruck bringt. Robert Douglas-Fairhurst, der heute selbst an der Universität Oxford lehrt, sieht jedenfalls keine Indizien für pädophile Neigungen, die Carroll zuweilen unterstellt werden. Zudem war der Autor der "Alice" ernsthaft religiös und sah gerade die Unschuld als essenziellen Teil der Kindheit, die er um alles in der Welt zu bewahren trachtete. "Es ist sehr gesund und hilfreich für das eigene spirituelle Leben", bemerkte Carroll, "und auch demütigend, mit Seelen in Kontakt zu kommen, die so viel reiner und näher bei Gott sind, als man selbst zu sein fühlt." Auch die kleine Anzahl an Nacktfotos aus Carrols Bildergalerie, so Douglas-Fairhurst, sei mit der Erlaubnis der Eltern zustande gekommen und sollte im Kontext des viktorianischen Kindheitskults verstanden werden: als Ausdruck der Unbeflecktheit in einer Phase eben vor dem "Sündenfall".

In der Öffentlichkeit blieben die eigentliche Identität von Lewis Carroll und die Existenz seiner Muse zunächst weitgehend verborgen. Alice Lidell heiratete mit 28 Jahren und lebte mit ihrem Mann großzügig im Landhaus-Stil. Erst nach dem Ersten Weltkrieg, als das Geld der Familie geschwunden war, begann sie ihre Rolle zu vermarkten. Als sie 1934 starb, ist die Geschichte von Alice schon dabei, so richtig in Fahrt zu kommen. Denn vor dem Hintergrund neuer ästhetischer Entwicklungen im 20. Jahrhundert erscheint Carrolls Kinderbuch wie ein Feuerwerk, dessen Funken verspätet zu zünden begannen. Der verrückte Einfallsreichtum des "Wunderlands" beeinflusste

die künstlerische Imagination weltweit und stieß in den Werken von James Joyce, Vladimir Nabokov und Agatha Christie ebenso auf Widerhall wie in den Gemälden von Balthus oder den Filmen von Walt Disney. Auch die Kommerzialisierung des Stoffs in Form von Restaurants oder Themenparks wurde vorangetrieben. Zuletzt hat der amerikanische Regisseur Tim Burton die Alice-Story als 3D-Fantasy-Spektakel in Szene gesetzt (2010).

Alice im Untergrund

In den 1960er-Jahren landete Carrolls Werk dort, worauf seine Handlung - das Mädchen fällt aus der Alltagswelt - und der ursprüngliche Titel ("Alice's Adventures Under Ground") verweisen: im Untergrund. Die Hippies und Blumenkinder sahen darin eine Anspielung auf die halluzinatorischen Erfahrungen, die durch Drogen wie LSD ausgelöst werden. Und das mysteriöse "Wunderland" wurde zur subversiven Chiffre für die utopischen Potenziale des menschlichen Geistes, aus denen heraus eine Umwandlung der Gesellschaft zu bewerkstelligen wäre. Wenig verwunderlich, dass in der "Flower Power"-Bewegung die Kindheit kulturell hoch im Kurs stand. Dies zeigt allein schon ein Blick auf die bunten Plattencover der psychedelischen Ära, die auffallend oft von Kinderbüchern inspiriert waren.

Bei "Alice" doziert Humpty Dumpty, dass ein Wort genau jene Bedeutung erhält, die er dafür wählt. "Es ist ein Zug der Kindheit, aus allem alles machen zu können", hat Johann Wolfgang von Goethe gesagt. Douglas-Fairhurst sieht in Carrolls Buch eine "Ermutigung, sich genüsslich 'verwundern' zu lassen". Jedenfalls ist es auch eine wunderbare Aufforderung, das innere Kind nicht ganz entschlafen zu lassen. Und sich stets an Carrolls Grinsekatze zu orientieren: Diese mag unweigerlich verschwinden, das Grinsen aber bleibt.

The Story of Alice

Von Robert Douglas-Fairhurst.

Random House 2015.496 S., kart., € 26,20

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