Das Gehirn auf der Anklagebank

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Ein italienisches Gericht reduzierte das Strafausmaß einer Mörderin auf Grundlage eines neurowissenschaftlichen Gutachtens. Zahlreiche Experten kritisieren diese Entscheidung.

Strafausmaß 20 Jahre statt lebenslänglich. Zu dieser viel beachteten Entscheidung kam kürzlich ein Gericht in der italienischen Stadt Como. Der Hintergrund: Die 28-jährige Stefania Albertani hatte bereits 2009 gestanden, ihre Schwester ermordet und verbrannt zu haben. Danach versuchte sie erfolglos, ihre Eltern umzubringen. In erster Instanz war Albertani zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden. Doch die Verteidigung machte strafmildernde Gründe geltend. Ein Gutachten von zwei Neurowissenschaftlern zeigte, dass bestimmte Areale ihres Gehirns Abweichungen von "normalen“ Menschen aufweist. Etwa der vordere Gyrus Cinguli, der zum limbischen System gehört und unter anderem für die Verarbeitung von Emotionen verantwortlich ist. Daher sei die Mörderin zumindest teilweise vermindert zurechnungsfähig. Eine Folgerung, der das Gericht zustimmte. In der Fachwelt hat diese Entscheidung für Aufsehen gesorgt. Kritisiert wird, Albertinis Gehirn sei nur mit zehn gesunden Vergleichspersonen verglichen worden. Der Versuch, Gehirnregionen mit bestimmten Verhaltensweisen in Verbindung zu bringen, sei fragwürdig.

"In der Neuroforschung kursieren viele naive Ideen, nach denen es so etwas wie Risiko-Hirnareale oder Risiko-Gene für aggressives Verhalten gäbe“, sagt Stefan Schleim, Assistenzprofessor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der niederländischen Universität Groningen. Er warnt davor, aus naturwissenschaftlichen Befunden voreilig Schlüsse zu ziehen, die (Rechts-)Normen betreffen. Zu unklar seien bislang die Zusammenhänge zwischen der Mikroebene des Gehirns und der Makroebene des Verhaltens. So werden häufig Schädigungen des Frontallappens der Großhirnrinde mit antisozialem Verhalten in Verbindung gebracht. Es gibt aber auch Beispiele von Personen, deren zuvor abweichendes Verhalten sich nach einer solchen Schädigung normalisiert hat. Auch das MAO-A taucht immer wieder in der Forschungsliteratur auf.

Unklare Rolle von Serotonin

Es kontrolliert die Produktion des gleichnamigen Enzyms Monoaminoxidase A, das für den Abbau mehrerer Neurotransmitter verantwortlich ist. Darunter auch Serotonin, das in Zusammenhang mit Impulskontrolle, Stimmungslage und Angst steht. Untersuchungen zeigten, dass bei aggressiven Menschen häufig ein verminderter Serotoninspiegel vorliegt. Andere Studien stellten bei einigen aggressiven Menschen jedoch einen erhöhten Serotoninspiegel fest. Zudem erreicht das aggressive Verhalten seine höchste Signifikanz, wenn die betreffenden Personen in ihrer Kindheit Missbrauch ausgesetzt waren. "Sehr oft sind die beobachteten aggressiven Verhaltensweisen durch Umwelt und soziale Faktoren beeinflusst“, meint Schleim. Zudem stehe das MAO-A-Gen mit Geisteskrankheiten in Verbindung.

In ihrer schärfsten Form besagt die Neurothese: Wir sind vollständig von den Funktionsweisen unserer neuronalen Verschaltungen bestimmt. Fast logisch folgt daraus, dass ein gründlicher Blick in den Schädel ausreicht, um Lügner, Mörder oder sonstig persönlichkeitsgestörte Menschen zuverlässig identifizieren zu können. Doch neurowissenschaftliche Resultate sind nicht sakrosankt, sondern stets von Interpretation, Wahl der Untersuchungsmethode und statistischer Auswertung abhängig. Das führte eine skurrile Untersuchung amerikanischer Neurologen an einem toten Lachs vor Augen. Dem toten Tier wurden mehrere Bilder von Gesichtern in verschiedenen Gemütslagen gezeigt. Dabei befand es sich in einem Kernspintomografen. Verblüffenderweise zeigte das Gerät Signale, die denen eines lebenden Menschen ähnelten. Die Forscher erklären das damit, dass Tomografen immer eine gewisse Anzahl falscher Signale aussenden, die man mit geeigneten statistischen Methoden aus dem Resultat herausrechnen muss. Neurokritiker bemängeln jedoch, dass das oft nicht geschieht.

Selbst wenn es zweifelsfrei nachgewiesene Korrelationen zwischen abnormen Verhalten oder Neigungen einerseits und Gehirnzuständen andererseits gäbe, bliebe die Frage, wie die Gesellschaft damit umgehen soll. Potentiell gefährliche Menschen wegsperren? Das Therapieangebot ausweiten? Die Sozialwissenschaftlerin Veronika Hofinger kritisiert, dass ein neurowissenschaftlich fundiertes Rechtsverständnis nur den Einzelnen im Blick habe (siehe Interview). "Die gesellschaftlichen Ursachen von Kriminalität werden dabei nicht berücksichtigt“, meint sie. Die Gefahr einer Kontrolldemokratie sieht Peter Strasser, Leiter des Instituts für Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtsinformatik der Karl-Franzens-Universität in Graz. Er diagnostiziert eine naturalistische Renaissance in der Kriminologie, die für Willensfreiheit keinen Platz lässt. "Würde das Strafrecht diese These ernst nehmen, müsste es reagieren“, sagt er. "Strafe müsste dann ihren Charakter des Tadels und des Vorwurfs verlieren. Stattdessen hätte das Rechtssystem die Aufgabe, gefährliche Personen wegzusperren.“ Ein Denken, das sich laut Strasser auf den Turiner Arzt Cesare Lombroso zurückführen lässt, der bereits im späten 19. Jahrhundert die Theorie vom "geborenen Verbrecher“ vertrat. Zwar können neurowissenschaftliche Erkenntnisse das Verständnis über das Zusammenspiel von Gehirn und Verhalten erweitern. Doch dürfe dieses Wissen nicht ideologisiert werden. So vertritt der bekannte Kriminalpsychologe Robert Hare die These, Psychopathie sei nicht heilbar - und plädiert für die Todesstrafe. Begünstigt wird der Glauben an die Erklärungsallmacht der Neurowissenschaft durch ein steigendes Sicherheitsbedürfnis. "Es ist ein gesellschaftliches Problem, dass dieses Sicherheitsbedürfnis Ausdruck eines Rechtsrucks sein könnte“, meint Strasser.

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