Das Gold der KANÄLE

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90 Prozent des Welthandels werden auf dem Seeweg abgewickelt. Über die Opfer und Entbehrungen des Menschen auf seiner Suche nach Reichtum.

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90 Prozent des Welthandels werden auf dem Seeweg abgewickelt. Über die Opfer und Entbehrungen des Menschen auf seiner Suche nach Reichtum.

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Im Sommer 1553, da hatten sie noch gejubelt, die Mützen hochgeworfen und dem König mit Kanonenschüssen salutiert, als sie von Radcliffe an der Themse ausliefen, um den hohen Norden zu erobern. Entlang der Küste Sibiriens wollten sie nach Japan und China vorstoßen, ausgerüstet mit einem Empfehlungsschreiben des Königs von England für den Kaiser von China und Tauschwaren in Hülle und Fülle. Beladen mit den Schätzen Asiens sollten sie in die Heimat zurückkehren. Der Kommandant notierte in sein Tagebuch: "Was für ein großer Tag für England!" Die "Merchant Adventurers" unter Sir Hugh Willoughby waren die ersten, die versuchten, einen neuen Weg des Handels und des Reichtums zu eröffnen: Die Nordostpassage.

Als sibirische Eismeer-Fischer ein Jahr später die Schiffe der britischen Abenteuer-Händler an der Mündung der Varzina im Eis liegen sahen, da waren sie unversehrt und in gutem Zustand. Doch im Zwischendeck fanden sie eine gespenstische Szenerie vor.

Alle 63 Mann waren tot - zu Eis erstarrt, so als wären sie von einem Augenblick auf den anderen gefroren. Die einen beim Schreiben, die Feder noch in der Hand haltend, die anderen beim Essen - mit dem Löffel im Mund. So berichtete man es wenig später dem Zaren in Moskau, und von hier verbreitete sich die Nachricht von den "Eisgeistern" wie ein Lauffeuer.

Fantastische Projekte

Schiffbruch, Tod und Sturm, Intrigen, Krankheit und Mord. Das sind die Inhaltsstoffe, die die Chroniken der Handelsstraßen füllen. Es sind die Geschichten von Routen und Kanälen, die wirklich bestehen - wie etwa der Panamakanal sowie jene, die projektiert, aber niemals verwirklicht wurden, wie etwa der "Kra-Kanal" in Thailand. Und schließlich jene, die bis heute ein teurer Ausflug der Fantasie geblieben sind, wie die Nordostpassage.

Tausende Geschichten und Anekdoten ranken sich um sie. Gemeinsam haben sie die Suche nach Kapital, Reichtum und Rohstoffen. Und gemeinsam auch, dass sie alle enorme Entbehrungen brachten und viele von ihnen tausende Menschenleben kosteten. Wer den Geschichten der Meerengen und Kanäle nachgeht, findet sich also bald in der Geisterstunde der Wirtschaftsgeschichte wieder. Und diese Geister sind heute lebendiger denn je. Von ihnen handelt diese Geschichte eigentlich.

Das beginnt schon mit der größten der unerfüllten Seeweg-Fantasien - der Nordostpassage: Von ihr träumten schon die Karthager. So gesehen hat die Idee, über das Nordmeer den Pazifik zu erreichen, die Menschheit seit mehr als 2000 Jahren nicht verlassen.

Die Liste der Schiffe, die vom Packeis eingeschlossen hilflos nach Norden drifteten, von den weißen Massen zermalmt wurden, in Stürmen vereisten und mit Mann und Maus untergingen, ist entsprechend lang. Und einige der Namen, die sie füllen, beschreiben den tragischen Ehrgeiz, den man mit ihnen verband: Bona Esperanza, Confidentia, Bonaventura, Lucky Strike. Ab dem 16. Jahrhundert versuchten es die Briten, die Deutschen, die Amerikaner und die Norweger, die Dänen, die Russen. Sie alle scheiterten.

Russlands Präsident Wladimir Putin hat nun die Nordostpassage wieder ins Zentrum seiner politischen Planungen gerückt. Es sollen Stützpunkte und Häfen errichtet werden, und zwar für eine Zukunft, in der die Arktis durch die Schrumpfung der Eismasse ganzjährig befahrbar sein wird. Russland rechnet damit, dass ab 2050 etwa 411 Millionen Registertonnen pro Jahr über die Nordostpassage verschifft werden - was selbst den Panamakanal übertreffen würde. Heute wagen sich dagegen nur eine Handvoll Handelsschiffe zwischen August und September unter dem Schutz von Atomeisbrechern dorthin, wo der Handelsabenteurer Hugh Willoughby im Jänner 1554 die letzten Zeilen in sein Tagebuch notierte. "Wir sitzen fest. Und nun kommen die Stürme und der Hagel und die furchtbare Kälte in der Finsternis."

Der Ursprung der Dramen

Genau genommen ist es aber nur in seltenen Fällen die Natur, welche dem Menschen soviel Verderben verursacht. Es ist vor allem der Mensch selbst, der am Ursprung der meisten Katastrophen steht - durch Höchstleistungen an Verschlagenheit, Selbstbetrug und Rücksichtslosigkeit. Die Fährnisse der Seefahrt, über die bis heute 90 Prozent des globalen Warenverkehrs abgewickelt wird, nährt den Verdacht, dass das menschliche Handeln und der Handel mit Waren im Speziellen oft mit der Verwirklichung der niedrigeren Neigungen verknüpft ist. Und dass sich die Schattenseiten des Charakters gerade dort verdichten, wo die Handelswege eng werden - also an Kanälen und Meerengen. Dort hat nicht nur der Wohlstand große Erfolge gefeiert, sondern auch die menschliche Niedertracht, die Raubgier und das politische Ränkespiel.

Das offenbarte sich selten so deutlich wie an dem "Kra-Kanal", der in Thailand eine Verbindung zwischen dem Chinesischen Meer und dem Indischen Ozean schaffen sollte. Im 17. Jahrhundert hat der thailändische König Narai dieses Projekt erstmals ersonnen. Der Seeweg nach Europa wäre um 1500 Kilometer kürzer als über die Straße von Singapur und Malakka, die dicht befahrendsten Handelsroute der Welt. Doch die britischen Könige, imperiale Herrscher über Singapur, wollten die reiche Metropole nicht gefährden, die seit Generationen den Handel zwischen Ostasien und Europa kontrollierte. So verhandelten die Briten jahrzehntelang mit Thailand, um den Kanal zu verhindern. Und tatsächlich stand am Ende dieses Pokerns und Feilschens 1897 ein kurioser Vertrag, in dem sich Thailand verpflichtete, auf eigenem Staatsgebiet keine Verbindung zwischen den Meeren zu schaffen.

Man könnte nun kalkulieren, was ein Kanal, der pro Schiff 1500 Kilometer spart, allein für den CO2 Ausstoß und damit für das Weltklima für Folgen hätte. Bei 2000 Schiffen, welche täglich den Umweg durch die Enge von Malakka nehmen müssen, wären das immerhin drei Millionen Kilometer pro Tag und die entsprechende Menge an Schiffsdiesel weniger. Aber auffälligerweise befördern nicht die Ideen möglicher Ersparnisse die ehrgeizigsten Projekte, sondern die Gier nach Geld und Gold.

Der Panamakanal ist dafür das beste Beispiel. Eigentlich gehen die ersten wirklich realen Pläne dafür tatsächlich auf einen US-Goldrausch zurück. Der spätere US-Magnat Cornelius Vanderbilt schipperte im 19. Jahrhundert Goldgräber aus dem Osten der USA über die Landenge von Panama zu den Goldcamps in Oregon - und ersparte ihnen so die Reise durch den Wilden Westen der Skalpjäger. Heute ist der Panamakanal die ertragreichste Handelsstraße der Welt. 326 Millionen Tonnen Güter werden pro Jahr transportiert. Jede Tonne ist bares Geld. Die höchste Gebühr bezahlte 2012 ein Tanker mit 220.300 Dollar.

Ob aber die Milliarden-Einnahmen, welche der Kanal einbringt, tatsächlich jene 28.000 Menschenleben aufwiegt, die bei seinem Bau vernichtet wurden, ist eine Frage, welche die Ökonomie nur am Rande stellt und schon gar nicht beantwortet. Wie auch ganz grundsätzlich auffällig ist, dass Empathie weder bei großen ideologischen Projekten noch bei Meisterwerken des technischen Fortschritts eine Rolle zu spielen scheint. Derzeit bekommt dies das mittelamerikanische Volk der Rama zu spüren, das aus seinem Lebensbereich auf der Trasse des begonnenen Gran Canal von Nicaragua vertrieben wird. Von der Fauna und Flora Nicaraguas, rund 400.000 Hektar Regenwald und dem größten Süßwasser-Reservoir des Landes, dem Nicaraguasee, ganz zu schweigen.

Von Suez nach Ostindien

In diesem Sinn gehorchen alle Schiffskanalprojekte einem Schema. Hohe Einnahmen gegen Hohe Kosten auf der Seite von Mensch und Natur: Beim Bau des Suezkanals sollen 150.000 Arbeiter gestorben sein. Die Einnahmen für den ägyptischen Staat betragen derzeit etwa drei Milliarden Dollar pro Jahr. Mit dem Suezkanal verbindet sich übrigens auch ein österreichisches Traumprojekt: 1792 erging eine Petition eines gewissen Carl August Heim an die Kaiserliche Hofkammer: "Wenn also das Allerdurchlauchtigste Erzhaus Österreich mit der Pforte (das Osmanische Reich; Anm.) einen Traktat schlöße, vermöge wessen es sich anheischig machte, der Pforte zur Durchgrabung der Suetzischen Erdenge die Kosten herzuschießen, daß die Pforte dafür Österreich zu ewigen Tagen die freie Durchfahrt durch die alsdann entstehende Meerenge gestattete - würde nicht Österreich den Handel nach Ostindien an sich ziehen?"

Die Frage war visionär. Die Antwort weniger. Denn der Kaiser bedankte sich höflich für die Idee Heims, der man aber "fürderhin nicht nähertreten" wolle. Manchmal bestimmt eben nicht nur die Meerenge, sondern die Enge des Horizonts das Handeln. Es wäre ja auch kaum auszudenken: Österreichisch-Ostindien.

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