Das große Europa wächst von unten

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Gemeinden und Kommunen Europas haben in der Wirtschaftskrise bemerkenswerte Konjunkturpakete geschnürt. Europa kann nur auf Basis der Subsidiarität gelingen. Der Zentralismus ist keineswegs billiger und wirksamer. Aber die teuren doppelten und parallelen Strukturen müssen reformiert werden. Ein Plädoyer für die Kommunen.

In wirtschaftlich kritischen Zeiten treten reflexartig die Einsparer, Rationalisierer, Zentralisierer und Verstaatlicher auf den Plan. Zum Teil nicht ganz zu unrecht. Gefährlich sind jene, die die Wirtschaftskrise dazu benützen wollen, um Ziele umzusetzen, die normalerweise nicht erreichbar sind. Dazu gehören vor allem einmal die Zentralisierer. „Jetzt sieht man’s, die EU braucht mehr Macht, um der Krise Herr zu werden!“, tönt es da und dort aus Brüssel und aus Kreisen der globalisierten Industrie- und Finanzmanager. Und Politiker der Nationalregierungen sehen die Chance, „teure regionale und lokale Strukturen“ abzuschaffen und durch zentrale Strukturen zu ersetzen, wobei noch niemand nachweisen konnte, dass der Zentralismus kostengünstiger arbeitet als der Regionalismus. Konsequenterweise hätte dann ja die zentralistische Planwirtschaft des Kommunismus die billigste Verwaltung hervorbringen müssen. War’s aber nicht, ganz im Gegenteil!

Bürger- und Lebensnähe als Wert

Sieht man denn wirklich nicht, dass Bürgernähe und Lebensnähe der Verwaltung unendlich wichtige Werte für die Menschen sind? Sollen denn noch mehr Menschen gezwungen sein, aus den ländlichen Regionen abwandern und in die Anonymität der urbanen Zentren untertauchen zu müssen – mit all den damit verbundenen problematischen Entwicklungen? Hört doch endlich auf mit der Diskreditierung der Regionen als provinziell, rückständig, engstirnig! Das mag z. T. schon einmal gestimmt haben – doch inzwischen haben sich Regionen und Kommunen längst geöffnet, einen wichtigen Modernisierungsprozess durchgemacht und kulturelle Initiativen gesetzt, die dem Angebot in den Zentralen nicht nachstehen.

Trotzdem versuchen manche Zentralbürokraten, die von der Wirtschaftskrise diktierten Einsparungen klammheimlich zu einer grundsätzlichen Schwächung des Föderalismus zu missbrauchen. Der volkswirtschaftliche Vorteil der Bürgernähe darf nicht vergessen werden: Wegen jeder kleinen staatlichen Entscheidung nach Wien fahren zu müssen, bedeutet eine beträchtliche zusätzliche zeitliche und finanzielle Belastung der Bürger. Mit Forderungen nach Abschaffung regionaler Verwaltungen schießen sich auch so manche Rationalisierungsfetischisten aus der Wirtschaft ins eigene Knie.

Länder müssen Schulen behalten

Dort, wo teure Parallelstrukturen bestehen, müssen sie schleunigst abgeschafft werden. In Österreich etwa in der Schulverwaltung. Geredet wird darüber schon seit Langem, die Umsetzung lässt noch immer auf sich warten. Wenn – so wie derzeit – wieder einmal eine Chance auf Lösung der Frage besteht, wird sofort die zentralistische Variante angestrebt. Das Grundschulwesen soll ganz von der Zentralverwaltung übernommen werden, die Länder würden damit aus dem Bildungswesen ganz aussteigen und keine Möglichkeit mehr haben, regionale bildungspolitische Entscheidungen zu treffen. Etwa die Aufrechterhaltung einer einklassigen Volksschule in einem entlegenen Ortsteil. Die zentrale Schulbehörde in Wien fährt mit einem einheitlichen Raster über das Grundschulnetz und löst ohne Rücksicht auf regionale Eigenheiten die Kleinstschulen auf. Eine Katastrophe für Kinder, Eltern und deren Lebensqualität. Sollen nach dem Verlust des Greißlers, der Post, des Gendarmeriepostens, vielfach auch des Pfarrers die ländlichen Regionen nun noch die Schule als wohl letzten sozialen Kristallisationspunkt verlieren? Wenn jetzt die Länder nicht zugreifen und die Verantwortung für die Grundschulen fordern, geben sie einen wichtigen Teil ihrer Existenzberechtigung ab.

Auch die Kontrolle von politischen Entscheidungen durch die Bürger ist viel unmittelbarer auf der regionalen und kommunalen Ebene. Das „Dampfablassen“ gegenüber dem Gemeindevertreter, dem Bürgermeister, dem Landtagsabgeordneten, dem Landesrat oder dem Landeshauptmann, die alle auch persönlich greifbar sind, verhindert, dass die Politikverdrossenheit noch mehr steigt.

Auch wenn’s für die dortigen Politiker unangenehm ist: Ich würde die politische Verantwortung für die Integration von Ausländern viel stärker in die regionale und kommunale Verantwortung übertragen – ihnen dafür allerdings auch die notwendige finanzielle Ausstattung geben.

Reformdebatte tritt auf der Stelle

Während in vielen Ländern Europas – vor allem in den ehemals kommunistischen – die finanzielle und administrative Überforderung der Zentralregierungen erkannt und deshalb zur Dezentralisierung und Regionalisierung übergegangen wird, verharrt in Österreich die Reformdiskussion seit vielen Jahren in kleinkariertem Prestige-Tauziehen zwischen Bund und Ländern.

In der aktuellen Wirtschaftskrise haben die Bundesländer ziemlich rasch ihre Maßnahmen zur Minderung der Auswirkungen der Krise gesetzt. Obwohl die Einnahmen für die Bundesländer und die Kommunen gravierend zurückgehen, wurden Konjunkturpakete von z. T. beträchtlichen Dimensionen geschnürt.

Das geeinte Europa kann nur dann auf Dauer Bestand haben, wenn europäische, nationale, teilstaatliche, regionale und kommunale Kräfte auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips in der richtigen Ausgewogenheit zueinander stehen. Es muss daher das Ziel sein, Europa zu regionalisieren, ein „Europa der Regionen“ zu schaffen, mit klaren Zuständigkeiten und institutionell und rechtlich gesichertem Mitsprache- und Mitwirkungsrecht der Regionen in den europäischen Gremien.

Regionalität, nicht Separatismus

Die Subsidiarität, zu der sich die EU bekennt, ist ein sehr altes Prinzip, das auch in seiner heutigen Fassung bis in die Wurzeln unserer europäischen Kultur im antiken Griechenland zu Aristoteles zurückreicht und über die Jahrhunderte seine Ausprägung bei Thomas von Aquin und der christlichen Sozialethik in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ Papst Pius’ XI. aus dem Jahre 1931 hatte. Später entdeckte der Salzburger alternative Nobelpreisträger und Philosoph Leopold Kohr die Grundsätze der Subsidiarität neu und wandte sie auf moderne Staaten und Unternehmen an.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es wäre völlig unsinnig, zu glauben, dass ein solches Europa der Regionen die Auflösung der bisherigen Gesamt- und Nationalstaaten mit sich bringen müsste. Das würde das Ende des gemeinsamen Europas bedeuten. Es ist geradezu absurd, dass von manchen – wie geschehen – etwa die Terroranschläge der kriminellen Baskenorganisationen in diesem Sommer als Ergebnis des „Europas der Regionen“ angesehen wurden. Tatsächlich gibt es leider in manchen Staaten separatistische Organisationen, die ihren „Traum vom eigenen Staat“ auch mit Gewalt durchsetzen wollen. Das alles hat nichts mit wohl verstandenem Regionalismus im Sinne der EU zu tun. Im Gegenteil: Richtig verstandene Regionalisierung ist genau das Gegenteil von Separatismus. Regionalisierung bedeutet, dass durch Schaffung subnationaler Strukturen eine verwaltungsmäßige und finanzielle Entlastung und damit Stärkung der Nationalstaaten erreicht wird. Regionen sollen im Sinne des richtig verstandenen Subsidiaritätsprinzips eine weitgehende Autonomie im Gesamtstaat erhalten, um diesem Aufgaben abnehmen zu können. Die Separatisten berufen sich gerade nicht auf das von der EU propagierte „Europa der Regionen“, im Gegenteil: Sie lehnen es entschieden ab, denn sie wollen ja, dass ihre Region ein eigener Nationalstaat wird und nicht eine starke Region innerhalb des Gesamtstaates.

Heimat trotz des großen Europas

Es ist erfreulich, aber viel zu wenig bekannt, dass der EU-Reformvertrag die Regionen, Städte und Gemeinden stärkt und ihre Eigenverantwortung und Selbstverwaltung, die kulturelle Eigenheit und Identität der Heimat garantiert. Die Menschen sollen auch in einem geeinten Europa ihre Geborgenheit in ihrer unmittelbaren Heimatregion finden können. Keine Angst vor einer uniformen europäischen Kultur. Da sollte einem die schleichende Amerikanisierung viel mehr Sorge bereiten. Der Vertrag sorgt außerdem dafür, dass in Hinkunft nur jene Angelegenheiten in Brüssel erledigt werden, die von den Mitgliedstaaten und ihren Regionen und Gemeinden nicht ausreichend bewältigt werden können. Alles andere bleibt bei ihnen. Die Beweispflicht liegt bei der EU. Das ist das sogenannte Subsidiaritätsprinzip, das bei Missachtung durch die EU auch einklagbar ist.

Das ist das Rezept gegen den von den Menschen gefürchteten Brüsseler Zentralismus und Bürokratismus.

* Der Autor war Landeshauptmann von Salzburg, ist Wissenschafter und leitet das Institut der Regionen Europas

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