Das hat er sicher nicht von mir

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ESSAY • Der Einfluss von Eltern wird gern überschätzt - wie auch jener von Lehrerinnen und Lehrern. Über die Welt als Erzieherin und die Notwendigkeit pädagogischer Schutzengel.

Mein Sohn sagt neuerdings "nöö“, wenn ihm etwas nicht behagt, und "coolo“, wenn er etwas ganz passabel findet; er zieht sich "Star Wars“-Leibchen über die schmale Brust, verwandelt Klopapierrollen in Laserschwerter und ist ein gefragter Fachmann, was "Lego Technic“ betrifft. Ansonsten pflegt er Maschebinden zu üben, über Mondrian zu schwadronieren, stolz ein Kreuz-Ketterl um den Hals zu tragen, von Katzen, Hunden und anderem Getier zu schwärmen - und mich in ungekannter Artigkeit zu fragen: "Mama, darf ich bitte auf die Toilette?“

Von mir hat er das alles nicht: Er hat es wohl bei seinen Freunden aufgeschnappt, aus Spielzeug-Katalogen inhaliert, von Kindergartenpädagoginnen gelernt oder von seinen Omamas ans Herz gelegt bekommen. Manches davon finde ich ziemlich "coolo“, anderes nicht so ganz - aber was soll ich mich beschweren: Ich bin ja nur die Mutter.

Die Welt erzieht, wie sie ist

Der Einfluss von Eltern - wie von aktiven, pädagogischen Maßnahmen insgesamt - wird gerne überschätzt. Das glaube nicht nur ich in etwas kniffligen, erzieherischen Momenten; das glaubt auch Franz Weinert, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychologische Forschung in München: "90 Prozent (…) der Erziehung geschieht durch das, was in der Welt geschieht, nicht durch das, was erzieherisch beabsichtigt wird“, sagt Weinert im Gespräch mit Donata Elschenbroich, der Autorin des Klassikers "Weltwissen der Siebenjährigen“. Es sei vornehmlich die (Außen-)Welt, die erziehe - und kein Kindergarten und kein Elternhaus könne sich dagegen immunisieren. Zu gierig saugen Kinder mit ihrer "strahlenden Intelligenz“, wie es einst Sigmund Freud bezeichnet hat, alles auf, was sich ihnen bietet. Das muss nicht zwingend von der biologischen Mutter kommen, dafür hat Mutter Natur brav vorgesorgt: Vielmehr kann jeder einzelne Mensch mit einem Vorsprung an Weltwissen mitspielen in diesem Spiel - und so zu einer Quelle werden, aus der das Kind später einmal schöpfen kann.

Dieses Spiel gegenseitiger Prägungen, das wir "Erziehung“ nennen - obwohl es darin nicht ums Ziehen, sondern eher ums Hinaufführen ("educere“) zu sich selber geht - ist also keine Intimsache, sondern ein ewiger Prozess mit zahllosen Playern. Die Großeltern, die entgegen der Mär nicht aus dem Leben ihrer Enkel verschwunden sind, sondern nur nicht mehr mit ihnen unter einem Dach, sondern ein paar (hundert) Kilometer weiter weg wohnen, gehören hier ganz wesentlich dazu. "Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“, lautet das passende, afrikanische Sprichwort, das längst zum rhetorischen Standard-Repertoire vieler Politiker, Pädagogen und Sozialarbeiter gehört, um das Ideal einer kinderfreundlichen Gesellschaft zu beschwören.

Mit einem afrikanischen Dorf haben die Erziehungsstätten der Kinder von heute freilich nicht mehr viel zu tun. Sie werden nicht mehr "auf der Gasse“ oder von den Nachbarskindern sozialisiert, sondern in Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen, Einkaufszentren und Social-Media-Foren. Wer ist dann für das Gelingen von "Erziehung“ verantwortlich und vermag zugleich die "heimlichen Miterzieher“ in Schranken zu weisen? Die gestressten Eltern? Oder doch eher die pädagogischen Professionisten?

Immer mehr Lehrerinnen und Lehrer haben das Gefühl, dass die Familie als Ort der Erziehung und Wertevermittlung zu bröckeln scheint - und dass sie es sind, die diese Versäumnisse aufzuholen haben. In einer repräsentativen Studie des deutschen Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2011, die auch gut auf Österreich übertragen werden kann, geben immerhin 78 Prozent der Pädagogen an, schon öfter mit überforderten Eltern zu tun gehabt zu haben. 87 Prozent betrachten Wertevermittlung deshalb als eine der zentralen Aufgaben von Schule (wie übrigens 90 Prozent der Eltern auch); zugleich aber glauben nur 37 Prozent der Lehrer (und ebenso wenige Eltern), dass dies tatsächlich gelingt.

Es ist das Eingeständnis einer relativen Machtlosigkeit - die noch beklemmender wird, wenn man den Blick auf die vermeintlich effektivsten Erzieher wirft: 69 Prozent der Lehrer sprechen den Medien einen sehr großen Einfluss auf ihre Schüler zu, 68 Prozent den gleichaltrigen Peers. Dagegen haben gerade einmal acht Prozent der Pädagogen das Gefühl, selbst zu ihren Schützlingen durchzudringen.

Trotz dieser Ernüchterung und trotz des Eindrucks, dass das Unterrichten stetig schwieriger wird, liebt die große Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer ihren Beruf: Laut Allensbach-Studie würden ihn 76 Prozent sofort wieder ergreifen. Erstaunlich!

Erziehende als Schutzengel

Die Lust am "pädagogischen Eros“, von dem Platon spricht, an dieser speziellen Form der Liebe, die darin besteht, dass man etwas Wichtiges weiterzugeben hat und den anderen zum Leuchten und Wachsen bringen will, scheint also ziemlich unerschütterlich zu sein. "Eigentlich wäre die Aufgabe des Erziehenden, dass er der Schutzengel ist, der sichtbare Schutzengel”, schreibt der Kabarettist Roland Düringer im Buch "Über die Erziehung“ (ecowin Verlag), das er diese Woche mit seinen Mit-Autoren Eugen Maria Schulak und Rahim Taghizadegan vom Wiener Institut für Wertewirtschaft präsentiert.

Meinem Sohn würde ich auf seinem Weg der Weltaneignung viele solcher Schutzengel wünschen: Omas und Opas, Lehrerinnen und Lehrer, Freunde, Kolleginnen und Mentoren, die ihn zum Wachsen und zum Leuchten bringen. Dass auch Medien und Werbung ihn umflattern, wird sich vermutlich nicht verhindern lassen. Aber ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern. Ich bin ja nur die Mutter.

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